Gerlinde und ihr geschmückter Carl

Carl und Gerlinde (76)

Natürlich war Gerlinde überzeugt, ihren Carl bis in den letzten Winkel seines Herzens zu kennen: sie hatte auch wegen ihrer forcierten ‚Schmuckaktion‘ mit der einen oder anderen ungewöhnlichen Reaktion von seiner Seite gerechnet – aber damit nicht!

Nein –  damit wirklich nicht…

Dabei sah Gerlinde nach den überraschend klaren Feststellungen von Frau Professor Christine Nüßlein-Volhard in ihrer jüngsten Veröffentlichung, es wirklich als ihr gutes Recht an, etwas nachzuholen, nach diesem fast achtjährigen Schmuckentzug: also einer Periode, in der sie nicht ein einziges klitze kleines Ringelchen, oder ein Paar Ohrklipps, oder wenigstens ein silbernes Kettchen von ihrem Carl bekommen hatte!

Ja – da war ihr schlichtweg etwas vorenthalten worden, was ihr aber nach Nüßlein-Volhard als menschliches Wesen zustand. Ähnlich wie Liebkosungen und zärtliche Worte: schließlich war ja unter allen Tieren auf dieser Erde nur das Tier „Mensch“ in der Lage, seine eigene Attraktivität durch künstliche Attribute zu erhöhen.

Diese Kunst entwickelte sich sogar bei den Menschen in einem ständigen Evaluationszirkel der gegenseitigen Betrachtung, der nicht auf genetischen Anpassungen, sondern auf Verabredungen und auf Moden beruhte. Tradition und kultureller Austausch in der Spezie Mensch besorgten nach Nüßlein-Volhard, was bei den anderen Tieren die steten Ausleseprozesse der Genvarianten, die die attraktivsten Muster verursachen, im Laufe von Millionen Jahren der Evolution besorgen.

Da war es doch mehr als normal, wenn sie –  als Gerlinde und Spezie Mensch – nicht mehr länger zögerte, sondern alles Versäumte endlich nachholte und jetzt innerhalb von sage und schreibe zwei Wochen –  ganz gezielt und zügig – schmuckmäßig nachrüstete: mit Ringen, Armbändern, Ketten, Broschen und nach einer Empfehlung von Hannelore, einem ganz bezaubernden Diadem!

Und das alles für läppische 8000.- €.

Das war doch nicht der Rede wert und sollte ihren Carl nur etwas aus seinem dumpfen, fast tierhaften Wahrnehmungsraum hervorlocken! Ja Gerlinde wollte ihn sozusagen wieder „vermenschlichen“, ihren Carl! Er sollte wieder wie früher werden…

Und wie reagierte die „Spezie Carl“ auf all‘ diese letztlich ausschließlich ihm zugewandten Aktivitäten, die seine spezielle Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit neu entfachen und stärken sollte?

Nun zunächst gar nicht!

Dabei war Gerlinde fair genug und führte ihm immer alle ihre neu erworbenen Schmuckstücke mit viel Freude vor – und nannte auch stets deren Preise. Zuletzt gab es fast schon jeden Abend eine kleine Schmuckvorführung: ja Gerlinde zeigte echt erstaunliche Fähigkeiten als Schmuckmodell.

Und dann passierte es an einem Samstag Ende Oktober abends, als Gerlinde, bestens gelaunt, ihr sagenhaftes Diadem vorführte: vor ihr saß plötzlich ein üppig geschmücktes Monster:

Mit ausladenden, protzigen Ringen an jedem Finger einschließlich Daumen und schweren Armbändern an beiden Handgelenken, sowie einer an Geschmacklosigkeit nicht mehr zu überbietenden Goldkette um den Hals! An beiden Ohren hingen jeweils riesige mit blauen Steinen besetzte goldenen Ohrringe und an der Unterlippe zwei wohl schmerzende silberne Wohlfühlringe, vor denen klingend ein riesiger Goldring durch die Nase baumelte, der quasi als gute Tat vorteilhaft das breite Grinsen einer stark geschminkten Fratze, verdeckte.

Und da dieses Monster unter seinem nackten ausladenden Bauch nur ein winziges hellblaues Unterhöschen trug, merkte Gerlinde erst auf den zweiten, oder dritten, oder gar vierten Blick, den hellblauen Haarschopf dieses grinsenden Ungetüms…

Ja, für einen kurzen Moment, dachte die ratlos vor diesem grässlichen Schmuckhaufen stehende Gerlinde schon, was wohl Frau Professor Nüßlein-Volhard zu diesem kunstgeschwängerten menschlichen Evolutionsprodukt gesagt hätte? Aber dann spürte sie nur noch ein Würgen im Hals und hatte alle Mühe sich nicht zu übergeben…

Wortlos drehte sie sich um, hielt sich mit der rechten Hand den Mund zu, eilte zur nahegelegenen Toilette und kotzte sich gründlich aus. Fürsorglich und höchst besorgt tappte ihr geschmückter Carl hinterher. Kläglich jammernd, dass er das alles so nie und nimmer gewollt hätte und ob sie denn überhaupt keinen Halloweenscherz verstünde! Was wär denn an seiner Schmückerei so schlimm, das sei doch nur billiger Maskierungskram und er hätte doch nie und nimmer sie vor den Kopf stoßen wollen, oder sie kritisieren – nein das hätte er nicht wollen – und er sehe selbst ein, dass er sie in letzter Zeit nicht gerade mit Aufmerksamkeiten überhäuft hätte und so weiter und so fort…

Als Gerlinde dann endlich erschöpft und bleich aus der Toilette trat, blickte sie zwar noch immer nicht mit Wohlgefallen, aber doch deutlich milder auf ihren geschmückten Carl, der sie fürsorglich ins Wohnzimmer zurückbegleitete und im vollem Schmuck den ganzen Abend lang fürsorglich um sie herumtapste

KH

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