Warum mich…? (Kapitel 9)

Zur Abwechslung hier einmal ein ‚Thriller‘! Mit etwas Glück kommt jetzt jeden Sonntag ein Kapitel. Vielleicht haben einige die Nerven und halten bis zu  Kapitel 19  durch? 

Das Bild ist übrigens auch von Martina Roth.

Kapitel 9

2002 – Die Celine

Elsbeth sah sich in einer hoffnungslosen Lage!

Aus dieser gottverdammten Clinique la Verte, gab es kein Entweichen mehr; Hugo hatte sie in einen Hochsicherheitstrakt umfunktioniert, in dem ausschließlich er bestimmte, wer hinein oder hinausdurfte. Gegen seinen Willen schien gar nichts zu gehen; das galt nicht nur für den Klinikbereich, sondern auch für die Umgebung, das Land – ja vielleicht für die ganze Welt: ihr war es ja gelungen auszubrechen, aber vergeblich, er hatte sie doch wieder eingefangen. Dabei hatte sie in der Dunkelheit des Waldes, trotz des Regens, schon den erleuchteten Himmel über Nizza gesehen und ihr Freudenausbruch war wie ein Feuerwerk in diesen schimmernden Himmel hineingekracht …

Was war das nur für ein befreiendes Gefühl gewesen – bis Hugo sie in ihrem Versteck, das irgendjemand aus der Clinique la Verte verraten haben musste, aufgestöbert hatte.

Und jetzt wieder diese Tristesse! Jetzt wieder diese tödliche Monotonie des Klinikalltages, der selbst Gesunde in den Wahnsinn trieb, wenn sie wie Elsbeth ihr halbes Leben in derart abartigen Anstalten zubringen mussten…

In der Plastischen Chirurgie, die an eine geschlossene Abteilung erinnerte, begann und endete ab sofort jeder Tag mit einer noch strengeren Visite, als vor ihrem Ausbruch.

Dr. Hugo L., mit einem weiteren Arzt, einem Dermatologen und Celine im Gefolge, erkundigte sich täglich mindestens einmal selbst mit steriler Höflichkeit nach Elsbeths Befinden. Seine größte Aufmerksamkeit, galt dem Abheilen der unzähligen schmerzhaften Hautverletzungen, Blutergüssen und Prellungen nach dem Sprung aus dem Auto.

Dr. Hugo L. ließ sich von Celine bei jeder Visite eine andere Stelle an Elsbeths malträtierten Köper zeigen, inspizierte diese gründlich, tastete sie mit seinen ewig klammen Fingern so lange ab, bis diese auf Elsbeths Körpertemperatur gebracht waren und beriet sich währenddessen mit seinem Kollegen, befragte aber auch immer wieder Celine über die Details des Heilungsprozesses.

Man sprach Französisch – und war nur an den Wunden interessiert. Elsbeth starrte währenddessen stumm auf einen bestimmten Punkt an der Zimmerdecke. Manchmal versuchte Dr. Hugo L. mit einem ironischen Lächeln auch diesen imaginären Punkt einzufangen. Elsbeth nahm nicht nur das nicht zur Kenntnis, sondern ließ teilnahmslos auch sonst alles über sich ergehen; sie tat als gehörten die Wunden gar nicht zu ihr. Die üblichen Floskeln, „na wie geht es uns denn heute“? und „haben wir gut geschlafen“? zeigten keinerlei Wirkung, was aber niemand mehr störte.

Elsbeth wurde offensichtlich von allen nur mehr als die apathische Umrandung der zu versorgenden Wunden gesehen. Auch von Celine, die mit gleichbleibender Aufmerksamkeit die Anweisung der Ärzte entgegennahm und Fragen beantwortete, die notwendigen Behandlungsschritte und Änderungen bei der Medikamentierung erfasste und alles sofort in Elsbeths Krankenblatt eintrug, wie es schien!

Während der ersten Tage nach Elsbeths missglücktem Ausbruch war das nicht so gewesen.

Trotz aller Wut und Enttäuschung hatte Elsbeth noch auf Hugo reagiert und den Kontakt zu ihm und dem anderem Arzt sogar gesucht, aber als sie eines Nachts schlaftrunken aufgestanden und vor die Tür ihres Krankenzimmers getaumelt war, den schlafenden Wachmann auf dem Stuhl entdeckt hatte, der erschrocken hochgefahren war, da er sich ertappt fühlte, hatte sie wohl beschlossen, Hugo für den Rest seines Lebens zu bestrafen und nahm ihn ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Kenntnis. Selbst seine Sprache hatte sie in ihrem Gehirn gelöscht! Sie wusste, dass sie ihn mit nichts mehr verletzen und kränken konnte, als mit dieser teilnahmslosen Kälte, da er immer noch an seine absurde Therapie glaubte, von der niemand mehr etwas wissen wollte.

Sie auch nicht!

Elsbeth glaubte zu spüren, dass sie in ihrem Zimmer neuerdings  zwischen den einzelnen Visiten auch noch überwacht wurde. Mit dem Fernsehgerät über dem Schrank konnte man bestimmt nicht nur nach draußen schauen sondern auch nach drinnen und sicherlich in jeden Winkel ihres kleinen Krankenzimmers. Und in dem kleinen Badezimmer daneben und der Toilette gab es bestimmt  auch versteckte Kameras, die ihr, wenn es sein musste bis in den Hintern schielten, denn Hugos Schweineaugen und Schweineohren wollten alles sehen und hören…

Ob das wohl jemals aufhörte?

Auch bei den kleinen Rundgängen durch den Park, die eher eine Bewegungstortur waren  und sie nur mit Celines Hilfe, anfangs wöchentlich und später zwei bis drei mal die Woche machen konnte, war in einigem Abstand immer der Wachmann dabei und gelegentlich erspähte sie sogar Hugo, ohne sich diese Entdeckung anmerken zulassen.

Doch dann passierte etwas, was niemand so erwartet hatte, obwohl es sich über Wochen in leisen Trippelschritten angekündigt hatte.

Aber vielleicht war der tatsächliche  Ablauf der Ereignisse wirklich von niemandem so geplant, sondern vor allem durch die außergewöhnlich kalte Witterung ausgelöst worden?

In Südfrankreich hatte man seit Menschengedenken derart  tiefe Temperaturen um diese Jahreszeit  nicht mehr erlebt. Es war daher auch nicht weiter verwunderlich, dass Celine über ihren weißen Anstaltskittel immer häufiger noch einen hellen Kapuzenmantel trug, da sie ständig zwischen den verschiedenen Gebäuden in dem ausgedehnten Klinikum hin und her wechselte und auch immer öfter über Ohrenschmerzen klagte. Vielleicht hätte es jemand auffallen können, dass sie selbst bei ganz kurzen Visiten in Elsbeths Zimmer immer hinter der offenen Tür neben dem Schrank aus diesem Mantel schlüpfte und ihn an die Schrankwand hängte, an die irgendjemand versteckt einen Aufhänger angebracht hatte. Fast täglich dosierte sie bei diesen Kurzvisiten die Medikamente neu, ohne diese Änderung im Krankenblatt festzuhalten, setzte auch ohne Angabe von Gründen Medikamente ab und wurde nicht müde alle wunden Stellen aufs sorgsamste mit neuer Salbe zu versorgen. Wenn sie mit dem Rücken zum Fernsehgerät stand, strich sie seit einiger Zeit auch Elsbeth gelegentlich unauffällig über die Wange oder die Schulter, wobei sie durch winzige Kopfbewegungen und ihr Mienenspiel anzudeuten versuchte, dass Elsbeth keine Reaktion zeigen sollte. Aber vielleicht war das auch nur eine Täuschung, denn Celine  wirkte in letzter Zeit oft verwirrt und geistesabwesend, so dass es auch nicht weiter verwunderlich war, wenn sie immer öfter ihren Mantel hinten am Schrank  vergaß. Oft kam sie, laut schimpfend über ihre eigene Dämlichkeit zurück, doch manchmal ließ sie ihn auch ein bis zwei Tage hängen, bevor sie sich wieder

erinnerte. Elsbeth dagegen spürte, dass sie immer häufiger Tage erlebte, an denen sie nicht so niedergedrückt und apathisch war. Auch wieder denken konnte wie früher, soweit sie ihr Erinnerungsvermögen nicht täuschte. Und kaum Depressionen hatte. Manchmal bekam sie sogar richtig Lust aufzustehen und trotz Schnee und Kälte auch ohne Celine hinauszurennen, um sich den eisigen Wind um die Nase streichen zu lassen und das Knirschen des Schnees unter den  Füßen zu spüren. Aber der Wachmann vor der Tür ließ das alles nicht zu! Ihre Verletzungen vielleicht auch nicht….

Und Hugo, hätte der das zugelassen?  Hätte sie ihn fragen sollen? Hätte sie ausgerechnet ihm auf die Nase binden sollen, dass sie sich in den letzten Wochen viel besser fühlte?

Weniger Druck im Kopf spürte? Weniger schlapp war?

Nein – ihm nicht! Er war es ja, der sie gefangen hielt; er war es ja, der sie als sein Eigentum betrachtete, sie missbrauchte und sich berechtigt fühlte, an ihr herumzuexperimentieren.

Er hatte es vielleicht vergessen, aber sie nicht, als er ihr vor Jahren von ihrer „zukünftigen neuen Gesundheit“ vorgeschwärmt hatte, die er ihr mit ,seiner Therapie herbeizaubern’ würde, wie er sich ausgedrückt hatte. Seine ‚narrative Maltherapie’ werde sie ganz und gar wieder herstellen, sie müsse ihm nur vertrauen und alles was er anordne und von ihr wünschte auf das Genaueste befolgen und ausführen.

Auch alles andere könnte er für sie regeln, hatte er damals nach mehreren Gläsern Rotwein genüsslich grinsend gesagt.

„Fast wie der liebe Gott!“ flüsterte er ihr geheimnisvoll ins Ohr, so dass sie wusste was ihr an diesem Abend wieder bevorstand.

„Wozu sonst gäbe es diese segensvollen Möglichkeiten der plastischen Chirurgie, mit denen der Traum von der ewigen Jugend in immer greifbarere Nähe rückte“.

„Mit meinen Schönheitsoperationen, Elsbeth, bringe ich dir deine gesamte gestohlene Jugend zurück; glaub mir, ich kann das, ich  habe das oft genug bei anderen ausprobiert – für dich ausprobiert, denn du wirst mein Meisterwerk,  Elsbeth – dich mein Liebstes werde ich ganz neu erschaffen und  ob du willst oder nicht sogar mit Karins gottvollem „Madonnengesicht“, hatte er zu ihr mit einem glühenden Lächeln gesagt und sie mit großer Geste umarmt und geküsst, ohne die angstvolle Verzweiflung zu spüren, in die er sie mit dieser Aussage gestürzt hatte.

„Aber jetzt“, hatte er dann gesagt, „vergisst du alles wieder, was ich vor mich hingequasselt habe, denn diese kleine sanfte Spritze, die ich dir gerade in den Oberschenkel drücke, ohne dass du etwas merkst, wird dafür sorgen, dass du alles, für einen Traum hältst, wenn du morgen aufwachst; für einen schönen Traum über dich und deinen Schöpfer, mein Kleines“.

Aufgewacht war sie nicht am nächsten Morgen, sondern erst nach zwei Tagen, wie man ihr gesagt hatte, und sie hatte sich hundeelend und unsagbar schmutzig gefühlt…

Noch drei Tage danach wollte sie nichts anderes als sterben, so deprimiert war sie: aber dann tauchten irgendwo in ihrem bleiernen Kopf zwischen ihren zwanghaft verrenkten Gliedern, Hugos Worte  auf. Erst seltsam sporadisch, wie ein verklingendes Echo, dann immer klarer und bestimmter, und sie erinnerte sich auch noch daran, dass sie sich unbedingt alles hatte aufschreiben wollen, um nie zu vergessen, was Hugo mit ihr vorhatte. Ihm gegenüber, ließ sie sich das nicht anmerken, sondern zeigte statt dessen die allen vertraute Desorientiertheit und Vergesslichkeit, um die ihr zustehende Fürsorge abrufen zu können, wenngleich diese Fürsorge sie immer mehr anekelte und  erdrückte, so dass sie im Stillen doch schon wieder den nächsten Ausbruch plante.

Aber wer konnte ihr helfen? Wem konnte sie trauen?

Sicher nicht Celine, die sie nach ihrer letzten Flucht so scheinheilig hintergangen und zu diesem Teufel Hugo zurückgebracht hatte?

Aber hatte Celine sich nicht in den letzten Wochen verändert?

Selbst Dr. Hugo L. hatte sie bei einer der letzten Visiten gefragt, wie es ihr ginge, sie sehe so blass und müde aus?

Warum war sie dann trotz dieser zärtlichen Gesten ihr gegenüber so spröde und abweisend? Fühlte sie sich auch beobachtet? Oder hatte sie Angst vor Dr. Hugo L.?

Dann plötzlich wieder einer, der sich in letzter Zeit häufenden, Stromausfälle!

Alles versank in tiefer Nacht!

Die lang anhaltende Kältewelle im gesamten Mittelmeerraum setzte den alten maroden Leitungsnetzen im Großraum Nizza in den Abendstunden mächtig zu, wenn alle nach Licht und Wärme gierten und noch eine paar Millionen Heizkörper mehr zugeschaltet wurden und außerdem noch Legionen von  Waschmaschinen zusätzlich ihren alltäglichen Kleinkrieg gegen den angesammelten Dreck des Tages zu führen hatten.

Aber so lästig diese Stromausfälle und das regelmäßig auftretende Chaos auch waren, richtig panisch wurde niemand mehr. Irgendwie hatte man sich daran gewöhnt.

Oft war ja auch nach wenigen Minuten der Strom  wieder da und die aufgeregten Rufe nach Licht auf den dunklen Gängen und in den Krankenzimmern verstummten schnell, sobald alles wie üblich weiterholperte.

Völlig unerwartet stürzte dieses Mal Celine in Elsbeths Zimmer! Trotz der Dunkelheit konnte Elsbeth erkennen, dass es ihr elendiglich ging. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie sich aus ihrem Mantel schälte. Mürrisch und ungeduldig machte sie Elsbeth klar, dass sie schleunigst ihr Bett zu räumen hätte. Ohne eine Antwort abzuwarten ließ sie sich mitsamt ihren Kleidern und Schuhen auf das eilig von Elsbeth freigegebene Bett fallen und zog sich heftig bibbernd die Bettdecke so massiv über den Kopf, dass nichts mehr von ihr zu sehen war.

Als sich Elsbeth ärgerlich zu ihr hinunterbeugte, raunte sie ihr in Deutsch, was sie bisher noch nie getan hatte, hastig zu, schnellstens in ihren Kapuzenmantel zu schlüpfen und zwei Stockwerke tiefer in den Raum 0.333  zu gehen: aber ganz ruhig und gelassen. Sie selbst bräuchte jetzt Ruhe; und der Wachmann würde glauben Elsbeth läge, wie üblich um diese Zeit, in ihrem  im Bett.

Zunächst entsetzt und verwirrt, dann aber doch recht zügig und couragiert raffte sich Elsbeth auf, tappte in der Dunkelheit zum Schrank, schlüpfte da in den Kapuzenmantel, der ihr erstaunlich gut passte und machte sich bangem Herzens auf diesen befohlenen Weg ins Ungewisse. Da der Wachmann überraschender Weise gar nicht da war, blieb Elsbeth einer spontanen Eingebung folgend stehen und versuchte, die in ihr hoch kochenden Rachegelüste gegenüber Celine zu unterdrücken, als plötzlich eine dunkle Gestalt mit unkenntlich gemachtem Gesicht, schwarz gekleidet, an ihr vorbeihuschte und lautlos in ihrem Zimmer verschwand. Ängstlich eilte sie um die nahe Ecke und spähte zurück. Nach kurzer Zeit kam der schwarze Unbekannte heftig atmend, mit einem russischen Fluch auf den Lippen wieder heraus und entfernte sich ohne nach links oder rechts zu schauen. Elsbeth überlegte zwar kurz ob sie zurück ins Zimmer sollte und nachschauen was mit Celine war, entschloss sich dann aber, nichts zu riskieren und abzuhauen, solang der Wachmann noch weg war.

Hastig zog sie die Kapuze  über den Kopf und eilte davon.

Aber bei dieser Finsternis registrierte das ohnehin niemand.

Zu ihrem eigenen Erstaunen wurde sie in der allgemeinen Desorientiertheit und den ständigen Rufen nach Licht, nicht ein Mal von irgendjemand angesprochen oder befragt, sondern konnte in aller Ruhe im Erdgeschoß nach dem doch sehr abseits gelegenen Raum 0.333 suchen. Manchmal schien es ihr sogar, als hätte sie den einen oder anderen aufgeregten Zuruf in Französisch plötzlich wieder verstanden! Und komisch, je länger sie suchte, umso stärker festigte sich in ihr die Gewissheit in diesem Raum 0.333 schon einmal gewesen zu sein.

Aber den Anlass hatte sie vergessen – oder hatte sie jemand vergessen lassen…

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