Warum mich…? (Kapitel 2)

Zur Abwechslung hier einmal ein ‚Thriller‘! Mit etwas Glück kommt jetzt jeden Sonntag ein Kapitel. Vielleicht haben einige die Nerven und halten bis zu  Kapitel 19  durch? 

Das Bild ‚ Ahorn und Seide‘ ist übrigens von Martina Roth.

 Kapitel 2

1977 – Der Wald

Elsbeth Kant verschwand von einer Stunde auf die andere.

Dabei hatte Elsbeth die Horrorgeschichte ihres kleinen Bruders nach dem Gewitter erst als lächerlich abgetan, da er häufig in ausschweifenden Phantasien schwelgte. Der russische Soldat, der im Wald in den Bäumen hängen sollte, erschien ihr doch arg abenteuerlich. Weil aber Johannes partout nicht lockerließ, ja an seinem Geheimnis fast zu ersticken drohte, da die Eltern niemals seinen abendlichen Ausflug in den Wald akzeptiert hätten und er aus diesem Grund mit niemand reden konnte, langte sie letztendlich doch nach dem ‚Erste Hilfe–Koffer’ und schlich sich mit der Taschenlampe gleich nach dem Abendbrot noch schnell aus dem Haus. In spätestens drei Stunden wollte sie zurück sein.

Warum sie das tat wusste sie auch nicht? Vielleicht war sie verrückt!

Und wie verrückt sie war, wurde ihr klar, als sie an der von ihrem Bruder beschriebenen Stelle im Wald eintraf. Denn zu ihrem Entsetzen stieß sie da auf eine russische Patrouille, die sich tatsächlich im Scheinwerferlicht der Militärfahrzeuge um einen verletzten Soldaten am Fallschirm kümmerte.

Starr vor Angst tappte Elsbeth in winzigen Schritten nach hinten, um sich gleich wieder weg zu stehlen. Aber die zwei russischen Soldaten, die plötzlich hinter ihr auftauchten und sie bedrängten, ließen das nicht mehr zu. Energisch schoben sie die verängstigte Elsbeth zu ihren abgestellten Fahrzeugen, bellten sie mehrmals auf Russisch an und lachten komisch. Das Gedröhn der laufenden Motoren machte es unmöglich irgendein Wort zu verstehen. Der Gestank der Auspuffgase schnürte Elsbeth die Kehle zu. Immer wieder rang sie verzweifelt nach Luft. Der verletzte Soldat lag bereits am Boden und wurde versorgt. Er schien bei Bewusstsein, sein Oberkörper war entblößt.

Ein Arzt und ein Sanitäter redeten auf ihn ein, während sie die Wunden im Gesicht und an der Seite versorgten. Der Fallschirmspringer hatte viel Blut verloren. Selbst Reste des Fallschirms am Boden und an den Sträuchern waren Blut verschmiert. Die Soldaten führten Elsbeth unmittelbar an dem Verletzten vorbei. Sollte sie ihn sehen? Obwohl sie sich zwang nicht hinzuschauen hakten sich ihre Blicke doch an ihm fest. Oh Gott – Aljoscha, sagte sie zu sich, ohne dass es jemand hören konnte. Aljoscha stierte sie aus glasigen Augen an. Es war nicht zu erkennen, ob er wusste wer sie war. Elsbeth ahnte, dass sie ihn auch nicht kennen durfte. Diese Blutorgie überstieg ihre Kräfte; sie wandte sich jäh ab. Apathisch ließ sie sich von den Soldaten wegschieben.

Wie konnte das passieren?

Hatte Wladimir das arrangiert?

Aus einem Geländefahrzeug, dessen Scheinwerfer auch die Unfallstelle beleuchteten, stieg ein Offizier, der Elsbeth wohl schon beobachtet hatte. Er wies die Soldaten an, sie ihm zu überlassen und bat sie in gebrochenem Deutsch in sein Fahrzeug.

Langsam und bedacht sie nicht noch mehr zu verschrecken, fragte er nach ihrem Namen und wo sie wohne.

Elsbeth war nicht in der Lage zu antworten. Mit zittrigen Lippen setzte sie mehrmals zu einer Antwort an. Als sie endlich irgendetwas aus sich herausgewürgt hatte, wollte der Vernehmer noch ihr Alter wissen und was sie so spät hier im Wald zu suchen hatte: das war doch keine Zeit für junge Mädchen, alleine im Wald herumzuspazieren. Trotz aller Angst spürte Elsbeth, dass ihr unsäglicher Bruder, der ihr das eingebrockt hatte, rausgehalten werden musste. Genau wie Aljoscha! Sie beharrte darauf, nur einen abendlichen Waldspaziergang nach dem Gewitter gemacht zu haben. Sie habe keinerlei Ahnung gehabt, was hier im Wald vor sich ginge. Als sie aber den Lärm gehört habe, sei sie neugierig geworden und hierhergekommen. Nein, den Verletzten habe sie noch nie in ihrem Leben gesehen, beteuerte sie. Bestimmt nicht! Das müsse man ihr glauben! Und auch sonst wisse niemand von dem Vorfall! Sie war zwar ziemlich sicher, dass man ihren Verbandskasten, den sie in eine Brombeerhecke hatte fallen lassen, nicht gesehen hatte, spürte aber doch, dass dieser Offizier ihr nicht glaubte.

Die Taschenlampe in ihrer Hand war immer noch an.

Elsbeth begann zu weinen. Sie flehte ihren Vernehmer an, nach Haus gehen zu dürfen. Ihre Eltern seien bestimmt schon in größter Sorge, sie würde auch ganz sicher niemandem erzählen, was hier passiert war. Das Gesicht des Offiziers wurde hart, er sagte, wenn Elsbeth endlich mit der Wahrheit herausrücke und zugäbe warum sie hierhergekommen war, könne sie sofort heimgehen.

„Das ist die Wahrheit, das ist die Wahrheit“, wimmerte Elsbeth verzweifelt.

„Gut dann müssen wir dich in die Kaserne mitnehmen“, sagte der Offizier ruhig aber bestimmt.

Elsbeth verfiel in ihrem Sitz in ein schüttelfrostartiges Beben. Sie hatte längst keine Worte mehr und ihre Tränen waren vertan. Der Offizier stieg aus, holte von hinten eine Decke und legte sie um Elsbeth. Er sagte, er habe auch eine Tochter, aber zum Unterschied von ihr, lüge die nicht.

 

Als Elsbeth wieder zu sich kam, fand sie sich in einer schlecht belüfteten, dunklen Zelle. Zwei Tage und Nächte brütete sie dumpf vor sich hin. Sie aß die dünne Suppe, die ihr dreimal täglich vorgesetzt wurde und der Eimer in der Ecke stank von Tag zu Tag mehr.

Am dritten Tag tauchte überraschend ihre Freundin Karin S. auf. Eigenartig munter erkundigte die sich nach Elsbeths Befinden. Fröhlich plappernd, sagte sie, puh – hier ist es warm, öffnete kurz mit dem Rücken zur Zellentür ihre Jacke und zeigte das Abhörmikrophon an ihrem Körper. Dann stellte sie eine Flasche Limonade und ein Päckchen mit Süßigkeiten auf den kleinen schmutzigen Tisch, auf dem noch immer der leere Suppenteller stand. Das Gespräch kam nur mühsam in Gang. Nach wenigen Worten starrte Elsbeth wieder trüb vor sich hin. Sie schämte sich für den Gestank. Selbst stank sie auch.

Karin war so frisch!  Und sie fragte immer wieder, was passiert war. Aber Elsbeth blieb dabei, dass man sie beim abendlichen Spaziergang nach dem Gewitter eingefangen und hierhergebracht habe, ohne dass sie wüsste warum.

Schließlich weinte sie wieder.

Karin erzählte von den Kants, die bei ihr angefragt hätten, ob sie etwas von Elsbeth wüsste. Sie wären verzweifelt. Als Johannes ihnen damals nach den vereinbarten drei Stunden alles gebeichtet hatte, waren sie außer sich gewesen und hatten sofort mit der Suche nach ihrer Tochter begonnen. Vergeblich!

Gestern auf dem Heimweg von der Arbeit im Krankenhaus, sagte Karin, sei sie von einem freundlichen Mann angesprochen worden. Und dank dieses Mannes sei sie heute hier, um ihr zu helfen.

Beim Abschied drückte Karin ihre verstörte Freundin kurz an sich und grapschte ungeschickt nach ihrer Hand. Die Zellentür öffnete sich wie von Geisterhand als sie sich dem Ausgang zuwandte. Seltsam?

Elsbeth überlegte, wo sie den Zettel, den ihr Karin zugesteckt hatte, unbeobachtet lesen konnte. Das musste rasch passieren, sonst hatte er sich in ihrer schwitzenden Hand aufgelöst. Beim Eimer ging das. Sie nestelte an ihren Kleidern und schaute beiläufig in ihre linke Hand.

Sag nichts von Aljoscha und Wladimir. Wladimir will das nicht, er droht!’

Sie wischte sich über den Mund und verschluckte den Zettel.

Heftig erregt rannte sie in ihrer Zelle auf und ab, schrie und heulte, da sich dieser Wahnsinn immer weiter auswuchs.

Nach einer endlosen Woche wurde sie überraschend in der Nacht geweckt. Sie musste sich schnell ankleiden und in einen Uniformmantel schlüpfen. Mit zwei anderen Frauen ging es angeblich nach Berlin.

Der Transportwagen hielt nach einiger Zeit in einer größeren Anlage. Elsbeth wurde überraschend freundlich vom Fahrer gebeten auszusteigen. Eine resolute Krankenschwester führte Elsbeth in ein Gebäude, das im Vergleich zu ihrem Gefängnis das Paradies war. Oder doch nur eine weitere Vorhölle?

Man führte sie in ein einfaches Zimmer mit Bett, Stuhl, Tisch und Schrank. Neben der Tür war auch ein Waschbecken. Auf dem Tisch stand ein alter Wecker, der viel zu laut tickte.

Die Krankenschwester fixierte Elsbeth und sagte, sie könne sich fürs erste entspannen.

Elsbeths Frage, wo man hier sei, überging sie.

Sie sagte stattdessen im Kommandoton, dass sie in einer Stunde mit ihren neuen Aufgaben vertraut gemacht werde und knallte die Tür zu. Endlich alleine!

Seufzend ließ sich Elsbeth auf den einzigen Stuhl im Raum fallen. Es dauerte einige Zeit bis sie ganz bei sich war.

Im Schrank hing ein Schwesternkittel, außerdem gab es ein Paar blaue Gummischuhe und beim Waschbecken stand ein orangefarbener Kunststoffbecher.

Ein paar eigenartige Wäschestücke lagen auch herum.

Nach einer Stunde kam tatsächlich die bellende Krankenschwester wieder. Im Schlepptau hatte sie einen jungen schüchternen Arzt. Vielleicht Franzose; er sprach aber gut Deutsch und stellte sich als Genosse Hugo L. vor. Die Krankenschwester war Genossin Rosa, wie sie jetzt sagte.

Beide setzten sich auf das ächzende Bett.

Genossin Elsbeth durfte auf ihrem Stuhl sitzen bleiben.

Genossin Rosa machte schnell klar, dass man von Genossin Elsbeth eine Art ´Rund um die Uhr Betreuung´ eines schwer verletzten Mannes erwartete. Momentan liege dieser Mann im Koma, sein Zustand sei sehr ernst.

Elsbeth war viel zu verstört, um weiter nachzufragen.

Der verklemmte Arzt sagte, wichtig sei, dass Genossin Elsbeth immer – na ja, fast immer bei dem Patienten sei. Auf keinen Fall dürfe ihm etwas zustoßen. Genossin Elsbeth müsse sofort Bescheid sagen, wenn sich an dem Krankheitsbild des Verletzten etwas verändere.

Es gäbe auch keine weiten Wege, der Patient läge gleich gegenüber.

Wenn sie jetzt mitkäme, sagte der Arzt, könne man ihr alles zeigen. Wichtig sei, dass sie in den nächsten Tagen jede Stunde mindestens eine Visite mache. Wirklich jede Stunde! Auch nachts! Zögernd folgte Elsbeth den beiden in das Krankenzimmer gegenüber. Ihr Puls dröhnte bis zu den Ohren

Es war ein komfortabler Raum, der nur gedämpft beleuchtet war. In einem der beiden Betten lag der Patient!

Aber – es war nicht Aljoscha, wie sie im Stillen gehofft hatte, sondern dieser Wladimir. Aljoscha hatte ihn zuletzt gehasst, obwohl er einmal sein Freund gewesen war.

Wladimir hing an etlichen Schläuchen. Sein Gesicht war an vielen Stellen sehr geschwollen. Beide Arme schienen gebrochen zu sein. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Trotz seiner Verletzungen wirkte er eigenartig entrückt und schmerzfrei. Womit hatte der das verdient? Elsbeth beneidete ihn um seine Abwesenheit.

Warum gestand man ihr das nicht zu, wenn man schon dabei war sie verschwinden zu lassen? Hatte Wladimir dieses Verschwinden noch angeordnet? Zuzutrauen war es ihm.

Genossin Rosa fragte hinterhältig freundlich, ob alles klar sei.

Ihr lauernder Blick erschreckte Elsbeth aufs Neue. Mit einem Mal wurde ihr auch klar, dass es hier nicht nur um die Betreuung eines Schwerverletzten ging, sondern um Überwachung: Wladimir und sie standen ab sofort unter Beobachtung: und zwar Tag und Nacht!

Irgendjemand wusste wohl, dass sie sich kannten. Und dieser Irgendjemand wollte mehr wissen. Sollte Wladimir, dieser schäbige Opportunist, wie Aljoscha ihn genannt hatte, auch in Schwierigkeiten geraten sein? Durch Aljoscha?

Nur zu!  Elsbeth wusste zwar noch nicht, wie sie das neue Gefühl in sich benennen sollte, aber mit dem verordneten Verschwinden war ihr auch die Angst abhandengekommen und einer Art trotziger Zuversicht gewichen. Das war verrückt!

Wirklich verrückt, wie dieses gesamte Irrenhaus hier!

Entschlossen, ja fast dreist fixierte Genossin Elsbeth ihren Wachhund Rosa und sagte, dass ihr alles klar sei!  Sie wisse, was sie zu tun habe!

Und Dr. Hugo L. sagte, er sei überzeugt, dass Genossin Elsbeth ihr Bestes geben und die Partei nicht enttäuschen werde!

„Wir werden ja sehen,“ bellte Genossin Rosa und verließ eingeschnappt den Raum.

 

 

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