Zur Abwechslung hier einmal ein ‚Thriller‘! Mit etwas Glück kommt jetzt jeden Sonntag ein Kapitel. Vielleicht haben einige die Nerven und halten bis zu Kapitel 19 durch?
Das Bild ist übrigens auch von Martina Roth.
Kapitel 15
2003 – Die Vorsicht
Johannes war vorsichtig!
Er wollte auf keinen Fall durch irgendeinen unbedachten Schritt sein Akquisitionsprojekt für die Clinique La Chaumée gefährden. Außerdem blieb ohnehin kaum Zeit für Privates, da er und sein „HealthCare“–Team fast Tag und Nacht mit dem Einsammeln der Randbedingungen und Ausgangsdaten beschäftig war…
Trotzdem hakte sich die Dame im eleganten weißen Hosenanzug immer wieder in seinem Kopf fest: denn so fremd sie ihm war, was ihr Aussehen betraf und ihre Stimme, die männlich herb geworden war, ihre Bewegungen, die alles Ungestüme der früheren Jahre verloren hatten, ja sparsam elegant geworden waren, ihre Frisur, die eine damenhafte Jugendlichkeit einbrachte zusammen mit dem teuren Duft ihres Parfums, das er in sich einsog, um wenigstens etwas von ihr mitzunehmen, als sie beide, wenngleich scheu, ohne viel zu sagen ihre Arme umeinander schlangen und weinten…
Da war dann schon etwas von der früheren Elsbeth gegenwärtig, wenn er es auch nur irritiert annehmen konnte, da er um Vieles größer war als sie und sich auch so fühlte, obwohl sie ja viel leidvollere Schicksalsschläge zu ertragen gehabt hatte als er, und vielleicht deshalb sofort wieder die ‚große Schwester’ war, die ihm die Tränen aus dem Gesicht wischte und die Nase putzte, wogegen er sich wie früher energisch sträubte, doch leider wie üblich nicht ausreichend Taschentücher dabei hatte, um sie erfolgreich abwehren zu können…
Aber als die Tränen versiegt und die Wangen und Nasen trockengelegt waren, standen sich der große, kleine Bruder und die kleine, große Schwester doch verlegen gegenüber und wussten nichts miteinander anzufangen, da sie Mühe hatten, sich gegenseitig im anderen zu finden. Die zwei Gläser Champagner, die Elsbeth herbeizauberte, halfen zwar, die peinlich steife Situation aufzulockern, aber überwinden ließ sich die Fremdheit an diesem Abend nicht mehr. Und so trennten sie sich mit locker hingesagten Absichtserklärungen, ohne einen neuen Termin vereinbart zu haben, sondern wollten es unausgesprochen wie bisher dem Schicksal überlassen, sie wieder zusammenzuführen…
Was ja schon bald geschehen konnte, wenn „HealthCare“ tatsächlich den avisierten Auftrag bekam.
Und wie es aussah, hatte seine Firma alle Chancen, als Generalunternehmer nicht nur die gesamte Klinikausstattung anbieten zu können, sondern auch die komplette E–Technik, einschließlich des Rechnernetzwerks, sowie die gesamte medizinische Apparatetechnik. Ein fetter Brocken, den er noch gar nicht abschließend zu beziffern wagte; da hatten Carlos und er, wie es schien gute Arbeit geleistet, abgesehen von den Geldern, die noch bei den diversen Stellen vorsorglich deponiert werden mussten; sicher keine kleine Summe…
Ja, deshalb war Johannes Kant vorsichtig!
Denn diesem aufkeimenden Pflänzchen drohten bei all den positiven Anzeichen noch von vielen Seiten Gefahren. Auch ein unbedachtes Wort zu Elsbeth oder ein Besuch zu viel bei ihr konnten störend sein.
Warum war sie denn überhaupt hier in La Chaumée?
Und nicht bei Karin, die sie doch angeblich behandelte?
Warum eigentlich? Und warum in der Enklave und nicht in Hugos Klinik? War ihre medizinische Behandlung gar schon abgeschlossen?
Johannes spürte, dass er nach wie vor wenig wusste über seine Schwester und ihr Umfeld und über die unsäglichen Aktivitäten der verschiedenen Organisationen, Netzwerke und Verbände und ihr verhängnisvolles Zusammenspiel.
Da waren ihm Andere weit voraus; allen voran sein spezieller Freund Carlos!
Aber Boris war ja auch da? Was tat der denn? Und wenn Boris da war, war vermutlich Wladimir auch nicht weit, den er noch nie gesehen hatte, anders als Aljoscha, der sich wenigstens damals zur Besichtigung in die Bäume gehängt hatte, wenngleich er da bestimmt nicht das Bild von sich abgab, wie er es sich gewünscht hatte…
Und Elsbeth, seine äußerst reservierte Schwester, welchen Part hatte sie neuerdings in diesem vielstimmigen Konzert übernommen oder übernehmen müssen? Carlos hatte irgendetwas gefaselt von einer neuen Bedeutung, die ihr plötzlich zugefallen sein soll, da man über sie auch hinter irgendwelchen Namen her war, die sie noch wissen könnte. Nun was immer daran wahr sein mochte, es klang auf jeden Fall unappetitlich und brisant, so dass Abstand geboten war, denn da konnte man schnell ein paar zünftige Schrammen abbekommen und sensible Projekte gefährden…
Trotzdem flog Johannes nach der abschließenden, sehr positiven Besprechung mit Professor Anatoli T. nur schweren Herzens nach E. zurück.
Elsbeth, wenn sie es denn war, lag ihm im Magen! Irgendwie hatte er das Gefühl, sie ein weiteres Mal im Stich gelassen zu haben: allerdings fehlte ihm auch jede Vorstellung, was er konkret für sie tun hätte können. Onkel Paul durfte er nicht von Elsbeth erzählen; der hätte bestimmt gewollt, dass er sie mutig und energisch mit nach Hause genommen hätte.
Und Susanne auch nicht! Eigentlich niemand! Nur Karin S.!
Doch die wusste vermutlich ohnehin über alles Bescheid.
Und Geschäfte wollte sie doch auch mit ihm und „HealthCare“ machen, oder?
Aber ins Bett brachte sie ihn dieses Mal nicht! Das durfte er Susanne auf keinem Fall antun; trotz des Wonnemonats Mai, in dem er oft von einer diffusen inneren Unruhe geplagt wurde.
‚Dieses Mal nicht’, versicherte er sich als er in der ‚Hotel – Klinik Netzeband’ anrief und Frau Dr. Karin S., die Leiterin der Klinik verlangte…
‚Dieses Mal nicht’, schwor er sich auch als er zum vereinbarten Termin Anfang Juni mit einigen Experten seines Hauses aus E. anreiste und Frau Dr. Karin S. ihn in sehr sachlicher Atmosphäre im Besprechungszimmer begrüßte.
Sie hatte noch zwei Techniker dabei und den hausinternen Experten für CT– und fMRT– Untersuchungen!
‚Dieses Mal nicht’, sagte er sich auch noch, als er die Klinikleiterin und ihr Team zu einem Abendessen in dem sehr gemütlichen Hotelrestaurant „Zur alten Mühle“ in Netzeband einlud, um noch letzte Details zu besprechen, und in dem er und seine Leute auch die Zimmer gebucht hatten, ohne Karin vorher in Kenntnis zu setzen.
‚Dieses Mal nicht’, sagte er immer noch als er längst ihren Kopf in seinem Schoß hielt und sie mit vollem Mund meinte, er sollte doch endlich mit dem dämlichen ‚dieses Mal nicht’ aufhören und sich stattdessen lieber ähnliche Mühe geben wie sein Freund Erwin auf Elba, der ihn übrigens herzlich grüßen lasse. Und sie versicherte ihm auch, dass er ‚dieses Mal nicht’ überwacht und gefilmt werde – vom Netzwerk jedenfalls nicht!
Leider musste sich Johannes eingestehen, dass ihm in diesem Augenblick, wie so oft, jedes Netzwerk und jede Organisation egal waren, denn diese Karin S., bei deren Namensnennung er schon in Aufregung und Wut geriet, übte einfach eine zu verhängnisvolle, süße Macht auf ihn aus, als dass er sich ihr, selbst unter Aufbietung aller Kräfte, entziehen hätte können…
Leider!
Der nächste Tag war sonnig und mild; nach dem kalten verregneten Mai ein Geschenk!
Da seine Experten schon in der Klinik waren, ließ Johanns seinen Wagen auf dem Hotelparkplatz stehen und ging zu Fuß in die ‚Hotel–Klinik’! Er spürte, wie ihn plötzlich eine unbändige Lust überkam, nach so langer Zeit wieder einmal in ‚seinem Wald’ herumzuspähen und nach den Überresten seines ‚Zwergenlandes’ Ausschau zu halten; doch nur nach denen, denn auf Elsbeth brauchte er dort nicht mehr zu warten. Immerhin wusste er heute, dass sie noch lebte, wenngleich ihm die sehnsuchtsvolle Nähe, die er damals gespürt hatte leider abhanden gekommen war…
Frau Dr. Karin S. wartete schon auf ihn!
Um zehn Uhr wurden die technischen Gespräche fortgesetzt.
Karin kam in einem gut sitzenden hellblauen Kostüm, sauber, strahlend und in dem Wissen, dass nun jeder der anwesenden Männer größte Mühe hatte, sich auf die Technik zu konzentrieren. Umso mehr war sie bemüht, die Begrüßung und einleitenden Worte sehr förmlich zu halten. Das war angenehm.
Johannes gab sich noch einmal alle Mühe, die Vorzüge und technischen Vorteile der fMRT- Anlagen seines Hauses darzustellen und dem Bedarf der Klinik gegenüberzustellen. Die Dimensionierung war wichtig! Anschließend wurden auch die vorgesehenen Räumlichkeiten begangen und notwendige baulichen Änderungen erläutert. Karin sagte mehrmals außerhalb des Protokolls augenzwinkernd, dass sie sich schon diebisch darauf freue gewissen Leuten endlich ins Gehirn schauen zu können!
Johannes meinte kalauernd, da müsse sie sich aber unter Umständen mit Enttäuschungen abfinden, denn manchmal sei statt des zu erwartenden Gehirnes nur ein dünner Kupferdraht zu sehen, der quer durch die gähnende Leere gespannt nur eine einzige Funktion habe: nämlich die, beide Ohren am Schädel zu halten!
Dennoch, meinte er abschließend, sei der Kauf einer derartigen Anlage nicht nur in wissenschaftlicher und geschäftlicher Hinsicht lohnend, sondern für ein Haus mit derartiger Reputation geradezu ein Muss!
„Schön gesagt, Herr Kant“, sagte Frau Dr. Karin S. und belohnte ihn beim Abschied mit einem winzigen flüchtigen Küsschen auf die rechte Backe, was zu einem lauten „Ah“ und verschmitztem Lächeln bei den übrigen Gesprächsteilnehmern führte, worauf sie sich gezwungen sah zu erwähnen, dass nicht nur die Firma „HealthCare“ derartige Anlagen in ihrem Portfolie hätte, sondern auch amerikanische und japanische Hersteller. Aber als Johannes Kant dann die Klinik verließ, zog sie ihn doch noch unter einem Vorwand konspirativ in ein leeres Nebenzimmer und sagte, sie wundere sich, dass er nicht ein einziges Mal nach Elsbeth gefragt habe.
„Nun ich weiß, dass sie nicht hier ist“, sagte er gelassen.
„Ja, es könnte sogar sein“, fügte er in professoralem Ton und entsprechender Gestik hinzu, dass er sie vor nicht allzu langer Zeit gesehen und gesprochen habe, obwohl Karin das für gar nicht gut befunden hatte, als er sie um diese Möglichkeit gebeten hatte. Aber sicher wäre das alles nicht mit Elsbeth, sagte er weiter, „denn wer weiß schon mit letzter Gewissheit, ob sie es auch wirklich gewesen ist! Vielleicht ist es ja nur ein Gespenst gewesen, oder ein Double!“
Karin sagte boshaft lachend, „nun, mit letzter Sicherheit, was immer du darunter verstehen magst, weiß ich das natürlich auch nicht, lieber Johannes, aber die Chance, dass sie es war, die du gesehen hast, ist vermutlich groß, da sie gegenwärtig wirklich leider bei Wladimir in der Klinik La Chaumée ist“.
„Wieso leider?“
„Weil das nicht gut für sie ist!“
„Und warum ist das auch wieder schlecht?“
„Weil sie an diesem Ort ziemlich brutal für Aljoscha verramscht wird“.
„Das klingt ja böse?“
„Ist es auch! Sie wird da zu Aljoschas Unterhaltungsäffchen herausgeputzt, das immer nur das Gleiche sagen und tun muss, da er ohnehin alles in den nächsten Minuten vergessen hat.“
„Warum denn das?“
„Bei Aljoscha hat man in den beiden Gehirnhälften links und rechts, jeweils den Hypocampus und sonst noch allerlei von der Innenseite des Temporallappens entfernt, um ihn von seinen starken epileptischen Anfällen zu befreien. Diese Operation ist zwar prinzipiell gut verlaufen, soweit ich weiß, aber übrig geblieben ist ein psychisch stabilisierter Krüppel mit verheerenden Gedächtnisausfällen.“
„Wie verheerend?“
„So verheerend, dass sich Aljoscha nur mehr an Dinge erinnern kann, wie man sich erzählt, die vor seiner Operation waren, denn in dem Teil seines Gehirns, den man ihm weggenommen hat, sitzt die Fähigkeit, die Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses in die verschiedenen Speicher des Langzeitgedächtnisses zu verschieben.“
„Und was heißt das?“
„Nun das heißt, dass Aljoscha sich nach seiner Operation an aktuelle Dinge nur wenige Minuten lang erinnern kann. Selbst wenn er sich im Spiegel, sieht weiß er nicht, dass er das ist, denn er hat sich so in Erinnerung, wie er vor der Operation ausgesehen hat. Und wie er gegenwärtig aussieht, hat er nach wenigen Minuten schon wieder vergessen. Und auch Elsbeth muss er exakt so serviert bekommen, wie er sie vor bald dreißig Jahren zuletzt gesehen und in seinem Langzeitgedächtnis an den verschiedenen Stellen abgelegt hat. Er erkennt sie nur, wenn sie so aussieht wie damals bei unseren letzten Treffen; da war sie siebzehn Jahre alt.“
„Und kann er sich wenigstens freuen, wenn er sie heute so sieht?“
„Vermutlich schon! Zumindest kurzfristig! Das ist ja genau was ‚W.S.’ zur Beruhigung seines Gewissens möchte: er will seinem geliebten Neffen Aljoscha, wie ich aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen gehört habe, nun alle Freuden der Welt und seien sie noch so klein bieten, nachdem er ihn damals durch Wladimir so hart abstrafen hatte lassen, da er mit dem Westen angebändelt hatte. Leider war das ja damals etwas danebengegangen. So verheerend sollte der Denkzettel auch nicht ausfallen. Wie so oft in der sowjetischen Armee war da einiges schief gelaufen“.
„Und wie soll das mit der Realisierung dieser ‚kleinen Freuden’ gehen?“
„Das will Wladimir mit einer Visagistin hinbekommen, die er schon lange kennt und die sehr gut sein soll; und soweit ich weiß, traut die sich das auch zu“.
„Oh Gott!“
„Der hilft ihr da leider auch nicht“, sagte Karin mit ironisch geheucheltem Bedauern und vermied zu erwähnen, dass Hugo dieses Ziel über eine Gesichtsoperation erreichen hatte wollen.
„Heißt das“, sagte Johannes, nachdem er eine Minute oder länger laut stöhnend und jammernd im Kreis herumgerannt war, „dass man Elsbeth eigentlich da herausholen müsste?“
„Versuch das mal, da hast du keine Chance! Gegen den Willen von ‚W.S.’ ist nichts zu machen: der ist wirklich allmächtig!“
„Wie Gott?“
„Mächtiger als Gott, du Armleuchter!“
„Nur nicht ausfällig werden, Madame“.
„Offensichtlich hast du keine Ahnung wer das ist?“
„Sag’s mir doch!“
„Nein sag ich nicht! Denn er will nicht, dass man über ihn redet! Genau so wenig wie er gesehen werden will! Er ist unsichtbar wie dein Gott! Drum musst du schon alles selber über ihn herausfinden! Aber frag doch deinen Carlos“, fügte sie noch spöttisch lächelnd hinzu.
„Gut wenn du mir das schon nicht sagen willst, dann sag mir doch bitte, warum ich immer in einer Katastrophe lande, wenn ich mit dir beisammen bin. Und jede neue schlimmer ist, als die vorgehende?“
„Lieber Johannes, wenn du nur etwas nachdächtest, dann würdest du erkennen, dass dies in keiner Weise an mir liegt, sondern ausschließlich an dir und deiner geliebten Katastrophenschwester Elsbeth. Aber vielleicht kann ich dir doch einen kleinen Trost mit auf den Weg geben. Immerhin ist es mir gelungen wenigsten einen Horchposten in La Chaumée zu installieren. Was immer das vorläufig bedeuten mag.“
„Und wer horcht da?“
„Ist besser, wenn du das nicht weißt“, sagte Karin und drängte ihn mit einem Kuss durch die offenstehende Tür.
„Und wenn du das nächste Mal kommst und brav und gefügig alle meine Wünsche erfüllst bekommst du endlich auch dein geliebtes „Ahorn und Seide“–Bild!
Erwin gefällt dieses Bild nämlich auch; er macht mir so viele signierte Originale wie ich haben will. Und vermutlich würde nicht einmal Elsbeth den Unterschied merken.“
„Kann ich nicht glauben.“
„Warte ab bis ich sie habe! Weißt du übrigens, dass Elsbeth alle ihre Bilder mit dem Pseudonym „M.R.“ signiert hat, dem Namen ihrer heiß geliebten Zeichenlehrerin?“
„Interessant, was du alles über meine Katastrophenschwester weißt?“
„Deinem komischen Onkel Paul kannst du dann auch endlich die schon öfter angekündigte Freude mit dem Bild machen!
Die schöne Fotografie wirst du ihm ja vermutlich doch nicht überreicht haben?“
„Miststück!“
„Hoffentlich freut er sich auch wirklich? Denn, wenn er die Initialen entdeckt, die Erwin in das Bild hineingeschmuggelt hat, könnte ihm die Freude daran gleich wieder vergehen?“
„Wieso das?“
„Warts doch ab…“