Internationaler  Frauentag – zur Erinnerung an meine Mutter Pauline, der dieses schreckliche Erlebnis widerfuhr. Ich war damals fast vier Jahre alt…

Nein, es war kein richtiges Weinen,

eher ein dünnes stimmloses Wimmern. Aus ihren verquollenen Augen sickerten auch nur deshalb noch Tränen, weil ihr kleiner, dicklicher Körper in dem blutrot verschmierten, weißen Küchenkittel permanent von einer unsichtbaren Kraft durchgeschüttelt wurde, die ihr jede noch so kleine Träne sofort aus den Augen trieb.

Und obwohl Pauline die ganze Zeit über vor ihrem grauen Metallspind in der fensterlosen Umkleidekammer des Küchenpersonals kauerte, war sie nicht in der Lage diesen ekelhaft verdreckten Küchenkittel abzulegen oder ihr mit Tomatenmark verklebtes Gesicht zu waschen.

Dabei war die Großküche der Niederösterreichischen Landesregierung schon lange aufgeräumt und für morgen vorbereitet, alle Kolleginnen seit Stunden weg und außer den Wachleuten bestimmt niemand mehr im Gebäude.

Aber sie – saß nur da, wimmerte, wischte sich über die Augen und starrte vor sich hin…

Ihr graute vor dem Heimweg! Andererseits lehnte sie jede Hilfe ab: sie schaffe das, hatte sie gestöhnt, obwohl sie genau wusste, dass sie zu Fuß heim zockeln musste. Selbst in diesem fürchterlichen Zustand, in dem sie sich heute befand. Etwas Anderes war gar nicht möglich.

In den letzten Monaten dieses elenden Jahres 1945 gab es ja in der russisch besetzten Zone Wiens kaum Strom. Mit Straßenbahn war da nichts. Und wenn, dann ging es in dem Trümmerhaufen des 4. Bezirks, den sie durchqueren musste, auch nur im Schritttempo voran. Vom 1. Bezirk, wo sie arbeitete, war selbst sie mit ihrem kleinschrittigen Dackelgang schneller daheim im 5. Bezirk, der britisch war, als mit der Trambahn.

Und trotz Fußmarsch schleppte sie immer noch übrig gebliebenes Essen mit heim – das schon – und verteilte es an die ganz armen Schlucker im Haus. Aber heute reichten ihre Kräfte mit Sicherheit nicht mehr, um noch irgendetwas mitzunehmen, ja sie musste froh sein, wenn sie sich selbst nach Hause schaffen konnte.

Und wenn nicht gerade Oktoberbeginn gewesen wäre, an dem die Russen turnusgemäß die monatliche Verwaltung des 1. Bezirks übernommen hatten, hätte sich bestimmt auch nicht dieser betrunkene russische Soldat, nach der Arbeit, in die völlig verwaiste Küche schleichen können.

Wie aus dem Nichts stand er plötzlich vor ihr: riesengroß, in schlampiger verschmierter Uniform, die Kappe nach hinten geschoben, darunter zwei schiefe, böse  Augen und ein breites, Angst einflößendes Grinsen mit hässlich abgebrochenen Vorderzähnen.

Pauline erschrak – und schrie!

Da war er schon bei ihr, packte sie wie einen Hasen am Genick, drückte sie auf den einzigen Stuhl in der Küche und hielt ihr mit seiner anderen stinkenden Pranke den Mund zu.

„Nix schreien – Mamuschka,“ zischte er und stieß ihr einen ekelhaft nach Schnaps stinkenden Schwall ins Gesicht, der sie kaum atmen ließ. Verängstigt, zitternd und stöhnend wand sich Pauline wie eine Schlange im Todeskampf und versuchte krampfhaft ihren Mund freizubekommen. Aber ihr hilfloses Gezerre an seiner tierischen Pranke schien diesen schrecklichen Russen nur zu belustigen: amüsiert drückte er abwechselnd ihren Nacken zusammen und dann den Mund und die Nase, und je mehr ihr Gesicht blau anlief, umso vergnügter wurde er.

Plötzlich schien er abgelenkt und ließ los! Pauline schnappte nach Luft. Sie wagte kaum, den schmerzenden Nacken und wehen Mund mit ihren krampfstarren Fingern abzutasten.

Irgendwie schien sich der Russe anders besonnen zu haben!

Er schaute Pauline auf einmal ohne Arg an, nuschelte etwas von Hunger und ‚nix essen’ und torkelte suchend durch die aufgeräumte Küche.

Aber da war nichts – alles Essen war in der Kühlkammer.

Da er weder sie, noch sie ihn verstand, schüttelte Pauline nur heftig ihren Kopf, während er in den Geschirrschränken herumwühlte und deutete auf die verriegelte Tür der Kühlkammer. Pauline war nicht in der Lage etwas zu sagen oder einen Ton von sich zu geben.

Leider stolperte der Russe dann über den unsäglichen Fünflitereimer Tomatenmark, den die schusselige  Maria nicht weggeräumt hatte. Der Eimer fiel um, und der Russe stutzte. Lässig stellte er ihn auf die Spüle, öffnete ihn, griff mit seinen Fingern hinein, kostete und schaute  grinsend zu Pauline, die kreidebleich auf ihrem Stuhl hin und her pendelte.

Als ob sie es geahnt hätte, trat er plötzlich mit dem Eimer an sie heran, brummte „Tomaten –  Wangen rot – Mamuschka“ und setzte Pauline den ganzen Eimer Tomatenmark einfach an den Mund.

„Du trinken – Mamuschka- viel trinken…“

Pauline wehrte sich. Sie wich mit ihrem Kopf so gut es ging aus und biss die Zähne zusammen; aber dieses Monster presste ihr den Eimer so grob an die Lippen, dass diese aufsprangen und höllisch zu brennen anfingen. Ihr blieb nichts anderes übrig als wenigstens ein bisschen zu schlucken. Und dann noch ein bisschen, und noch ein bisschen, und noch ein bisschen …

Immer wieder versuchte sie verzweifelt den Eimer wegzudrücken, um Luft zu holen, wobei ihr jedes Mal die rote Tomatenbrühe über Kinn und Hals in die  Bluse und den Küchenkittel lief. Grölend riss ihr das Monster die Bluse auf und setze den Eimer ab. Aber kaum hatte Pauline sich erholt, war der Russe wieder zur Stelle und drückte ihr noch rücksichtsloser den Eimer zwischen die Zähne, und Pauline schluckte und keuchte und schluckte und spürte wie sie immer tiefer in der saueren Tomatenbrühe versank…

Plötzlich hielt der Russe inne!

Blitzschnell presste er Pauline den Eimer zwischen die Füße, flitzte quietschend zu einer der Spülen, warf sich auf den Boden und kam teuflisch grinsend auf Pauline zu, mit einer ängstlich zappelnden Maus, die er stolz an ihrem langen Schwanz hin und her schwenkte.

Schreckensstarr bekam Pauline noch mit, dass er die piepsende Maus lachend über sein offenes Maul hielt und so tat als würde er sie schlucken, dann aber in das Tomatenmark vor ihren Füßen tunkte bis sie zu zappeln aufhörte. Er holte die Maus sichtlich zufrieden hoch, torkelte neben Pauline, zog ihr langsam und genüsslich mit der anderen Hand an den Haaren den Kopf zurück, und führte die tropfende und zuckende Maus immer näher an ihren Mund…

Dann – ein donnernder russischer Befehl und eine Kanonade von Flüchen!

Vier Hände packten das Monster und schleppten es samt der zuckenden Maus weg. Pauline stöhnte auf und rang mit weit aufgerissenen Augen nach Luft. Der zurückbleibende russische Soldat, in tadelloser Uniform, salutierte und fragte, ob er helfen könne…

Pauline, die über und über mit Tomatenmark bekleckert war, schüttelte mechanisch den Kopf.

Der Russe, entschuldigte sich in gebrochenem Deutsch und sagte Schweine gebe es überall – leider auch in der Roten Armee – aber er habe selbst eine Mamuschka in Moskau und wisse wie es ihr gehe, er werde Hilfe holen.

Er salutierte wieder und eilte zu den anderen, die bereits im Flur verschwunden waren, während Pauline spuckte und spuckte und keuchte und in immer schnellerer Folge sich übergab.

Und dann konnte sie endlich weinen…

KH

Zum Bild: Martina Roth, Mystisch, Acryl auf Leinwand, 64 x 45 cm

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