Unternehmertagebuch #55 “Die Parabel vom Kiosk”

Umsatz und Rendite – oder – BWL für Anfänger

Diskussionen über reale Unternehmen führen aufgrund der sehr facettenreichen Komplexität derselbigen schnell ins Chaos. Aus Sachfragen werden Glaubensdinge. Einfachste Zusammenhänge verwirren sich in philosophische und fast kriegerische Auseinandersetzungen. An Stelle von Erkenntnisgewinn und Wissensfortschritt entsteht Frust und De-Motivation.

Das habe ich selbst erlebt. Besonders die (theoretische) Frage „Welche Umsatzrendite ist einem Unternehmen angemessen?“ hat einiges an Frust in mein Unternehmerleben gebracht. Deshalb habe ich die Parabel vom Kiosk erfunden:

Stellen wir uns einen ganz kleinen Kiosk an einem Bahnhof vor. Nur ein Mensch passt rein. Der Raum für Waren ist begrenzt, die Kunden werden durch ein offenen Fenster wie an einem Schalter bedient. Der Kioskbetreiber macht die ganze Arbeit.

Der Kiosk bietet zwei Arten von Waren an. Kleine Jägermeister-Flaschen und Zigaretten. Der Aufschlag beim Jägermeister ist 150 %, da der Einkaufspreis 1 €, der Verkaufspreis 2,50 € beträgt. Macht eine Marge von 60 % beim Schnaps. Bei den Zigaretten ist die Marge schlechter. Bei einem Einkaufspreis von 4,50 € wird die Schachtel zu 5 € verkauft, es ergibt sich also ein Aufschlag von 0,50 €, das gibt eine Marge von genau 10% vom Umsatz.

Die Kunden kaufen in der Regel einen Jägermeister und eine Schachtel Zigaretten. Das kostet zusammen 7,50 € bei einem Einkaufspreis von 5,50 €. So ergibt sich die Durchschnittsmarge von 2 € oder 11/15 oder 26,666… % vom Umsatz. Die Pacht des Kiosks ist sehr gering, der Kioskinhaber verkauft selber, der Kiosk wird von Reisenden und Pennern gut frequentiert. So ergibt sich ein traumhafter EBIT und der Kioskbetreiber ist auch bei nicht so hohem Umsatz ganz zufrieden.

Eines Tages erweitert der Kiosk-Inhaber sein Sortiment. Er verkauft jetzt auch Streifenkarten. Eigentlich erscheint das ganz normal, Streifenkarten am Bahnhof zu verkaufen. Es ist nur ein kleiner Block mehr, der nicht viel Platz einnimmt. Der Verkäufer ist nicht ausgelastet und schafft das gut nebenher.

Die Folgen dieser Angebotserweiterung sind unternehmerisch natürlich schwer abzusehen.

Wird jetzt mehr Jägermeister verkauft, weil sich Streifenkartenkäufer zu einem Schnaps verführen lassen? Oder bewirkt diese Maßnahme Warteschlangen vor dem Kiosk, so dass der Umsatz an Schnaps und Zigaretten sinkt?

Auch das Risc Management wird anspruchsvoller: Erhöht sich das Risiko, weil der Kiosk interessanter für Diebe wird? Müssen jetzt dickere Schlösser angebracht werden?

Die Gründe für die erfolgte Erweiterung des Sortiments wissen wir nicht. Will der Kioskbetreiber noch ein wenig dazu verdienen? Hofft er mit den Streifenkarten vielleicht ab und zu ein Fläschchen Jägermeister mehr an den Mann oder die Frau zu bringen? Oder wurde er vom Verpächter des Kiosks bei der Vertragsverlängerung einfach dazu gezwungen? Damit die Fahrgäste am Bahnhof auch bei dem häufigen Ausfall des Fahrkartenautomaten zumindest noch eine Streifenkarte erwerben können?

Aber halt – betriebswirtschaftlich bahnt sich ein Fiasko an! Die Streifenkarte kostet in unserem Modell 12 €. Das ist viel mehr als ein Schnaps und eine Schachtel Zigarette zusammen. Die Marge an der Streifenkarte ist aber nur 40 Eurocent, liegt also bei ungefähr 3 %.

Und es kam, wie es kommen musste: Da die Menschen ihre Streifenkarten viel lieber am Kiosk kaufen als am Automaten, explodierte der Umsatz des Kiosks mit Streifenkarten. Die meisten Streifenkartenkäufer sind aber Nichtraucher und trinken den Schnaps nicht aus kleinen Flaschen. So stieg der Umsatz an Zigaretten und Schnaps nur wenig. Das Ergebnis erhöhte sich so zwar leicht, aber der Ebit ging prozentual zum Umsatz stark in den Keller.

Das betrübt den Kiosk-Inhaber so sehr, dass er an seinen unternehmerischen Fähigkeiten zu zweifeln begann und den Kiosk schloss. Seitdem gibt es am Bahnhof keine Zigaretten und keinen Schnaps mehr und die Streifenkarten muss man wieder am fast immer defekten Automaten kaufen.

RMD

P.S.
Die Geschichte und alle Zahlen sind erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen oder echten Situationen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

P.S. 1
Alle Artikel meines Unternehmertagebuchs findet man in der Drehscheibe!

Twitter

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Suche

Kategorien

Aktuelle Umfrage

Wie würden Sie die EURO-Krise meistern?

Ergebnisse anzeigen

Wird geladen ... Wird geladen ...
SCHREIBHEMMUNG

SCHREIBHEMMUNG

Reden und Argumentieren ist sinnlos geworden, die Hilflosigkeit hat mich überwältigt.
Führung - Chance und Problem

Führung - Chance und Problem

Die Botschaft heißt ALOF, KISS, Vertrauen, Klarheit, Respekt, Augenhöhe, Partizipation, Feedbackkultur anstelle von Regeln, Vereinbarungen, und Prozessen, Authentizität (Authentischsein anstelle…
Digitalisierung in Deutschland 1985 ff. - "Der Maschinenbauer" (Vintage)

Digitalisierung in Deutschland 1985 ff. - "Der Maschinenbauer" (Vintage)

Das Thema des Artikels Hier eine von mir erlebte Geschichte, die ein Beitrag zur Digitalisierung im deutschen Maschinenbau in der…
SUCHE
Drücken Sie "Enter" zum Starten der Suche