Anmerkung:
Diesen – wie ich finde – provozierenden Artikel habe ich zufälligerweise gefunden. Ihn habe ich am 15. Juni 2020, also vor fast fünf Jahren, geschrieben. Da er mir gut gefällt und ich aktuelle solche Gesprächsrunden nach meinem Kranktheitsausfall wieder öfters erleben, habe ich ihn leicht überarbeitet und neu veröffentlicht.
Hoch lebe die Kommunikation
Ich lausche gerne fremden Gesprächen. Und nehme gerne an Gesprächen teil. Oft muss ich mir dann auf die Zunge beissen. Weil die Äußerungen mir so gegen den Strich gehen, dass ich dazu trotzig provozierende Meinungen äußern würde, die die restliche Welt aber auch nicht verstehen würde.
Besonders reizen mich Stammtisch-Gespräche in Männerrunden. Da fallen mir zwei Themen auf, die Frauenfeindlichkeit und die dominante Rolle des Autos im männlichen Leben. Wobei das zweite eigentlich Inhalt eines jeden Gespräch ist.
Ich wundere mich oft über die „geistige Immobilität“. Menschen erstarren oft schon jung, im Alter wird wohl nicht besser.
Ganz im Gegensatz zur automobilen Beweglichkeit.
Also belauschen wir alten weißen Männer an den Stammtischen.

Das Briefmarkentreffen
Fünf alte weiße Männer treffen sich zum Tausch von Briefmarken. Das Briefmarkentreffen ist meine literarische Fiktion, denn kein Mensch tauscht heutzutage noch Briefmarken. Das Sammeln von Briefmarken ist vorbei.
Obwohl die Marken graphische Meisterwerke und zeitgenössische „Zeitmarken“ sind, interessiert sich niemand mehr für die kleinen bunten Bilder. Einst wertvolle Sammlungen werden beim Altpapier abgelehnt und als Sondermüll eingestuft.
Das Subjekt der Beschäftigung ist aber auch Nebensache. Alte Gockel wollen sich selber darstellen. Darum geht es. Und das macht man lieber nicht mit „Teams“ (wobei ich Jitsi oder gMeet bevorzuge), sondern „live“, also persönlich von Angesicht zu Angesicht. Also am Stammtisch.
In meiner kleinen Fiktion treffen sich fünf Gockel aus dem Westen, Norden, Osten und Süden Münchens.
Die sich in einer Kneipe treffen. Also irgendwie dorthin kommen müssen.
ÖPNV geht nicht, zu Corona- und in der heutigen Gefährdungs-Zeiten schon gar nicht.
(fast) alle alten Herren sind mit ihrem PKW gekommen. Sie wohnen zwar im S-Bahnbereich und könnten auch öffentlich fahren. Aber ihre Freiheit ist ihnen wichtig. Sie wollen sich keinem Fahrplan unterwerfen, wie ihn der öffentliche Verkehr vorgibt. Und früher mussten sie auch noch eine Maske tragen. Heute kommt die Angst vor den vielen Messerstechern und Messerstecherinnen. So ist der öffentliche Verkehr völlig unvorstellbar und die S-Bahn wird zum NOGO.
Fahrradfahren geht auch nicht.
Bei dem Verkehr! Die alten Herren fahren zwar gerne Fahrrad. Dies aber nur zum Spaß in der Freizeit. Und nur bei schönem Wetter. Einmal rund herum um den lokalen Weiher. Wenn es hochkommt sind das dann 20 km. Korrektur, co 10 Jahren waren es auch mal 20 km. Mehr geht nicht, zurzeit ist ja auch der Hinterreifen platt.
Das „Briefmarkentreffen“ ist eher eine Art dienstliche Veranstaltung. Und 20 km radeln, das ist auch ein NOGO. In der Stadt wäre das ja auch viel zu gefährlich. So wie die Autofahrer fahren würden! Und Nachts heim radeln, das geht ja gar nicht.
Und einer wohnt auf dem Land. Er meint: geht radeln eh nicht. Auch wegen der Bundesstrasse. Weil die Bx wäre ja lebensgefährlich. Mit all den besoffenen Rasern.
Da ändert die Tatsache auch nichts, dass alle ein Pedelec haben.

Taxifahren ist nichts für rüstige Greise
Und abgesehen davon viel zu teuer. Autofahren macht auch Freude und ist alles andere als Arbeit. Und Zeit hat man im Alter genug. Und dass man für die monatlichen Kosten des PKW ganz schön viel Taxifahren könnte, wird auch vergessen. So bleibt das Auto alternativlos, um zum Briefmarkenstammtisch zu kommen.
Wenn sich die alten Herren treffen, geht es los. Jeder berichtet von seinen negativen Erfahrung auf der Fahrt zum Treffpunkt. Der Verkehr würde immer schlimmer werden, es wäre der Wahnsinn. Und die Politik würde aber auch gar nichts dagegen tun. So man hätte eine richtige Herausforderung hinter sich (die man jedoch heldenhaft gemeistert hätte).
Autobahn-Latein
Dann kommt ein beliebtes Gesellschaftsspiel, dem sich meine alten weißen Stammtisch-Brüder gerne hingeben. Es geht um A Begriffe wie A8. Und Mann kann sich trefflich einem stundenlangen Diskurs hingeben, welche A-Nummer man benutzen sollte und welche nicht. Sie wissen, an welchen A’s die besten Rastplätze liegen würden. Zu welchen Zeiten man welche Nummern umbedingt vermeiden sollte. Und warum die Entfernung sich auf manchen A’s sich reduzieren würde, weil man dort so richtig „heizen“ könnte. Während man anderswo garantiert im Stau einschlafen würde.
Vor lauter A-Ziffern, A-Kreuzen und U’s wird mir immer ganz schwindelig. Und ich schwöre, dass ich den Brenner diesen Sommer vermeiden werde.
Die Fahrt mit dem Auto durch die Stadt ist ein Erlebnis
Jeder berichtet dann davon, welchen Schleichweg er intelligenter Weise genutzt hat. Und eigentlich wäre es ganz gut gegangen. Bis er dann doch in den Stau kam. Welcher Rowdy ihn kurz davor überholt hätte. Aber durch besonders kluge Wahl der Spuren er es. ihm dann gezeigt und ihn dann doch wieder überholt.
Und Hut ab von den Frauen! Sogar die Damen mit Hut würden mittlerweile aggressiver fahren wie der schlimmste Mann. Da sollte sich mal der Opa mit dem Hut ein Beispiel nehmen, der so provozierend langsam in seinem Opel auf dem kurzen Stück Landstraße gefahren wäre …
Alles dreht sich ums Auto
Und vom Verkehr, seinen Straßen und Teilnehmern geht es dann zum Auto allgemein. Welchen tollen Rabatt man beim letzten Kauf des SUVS oder VANS im zarten Alter von 72 Jahren doch bekommen hätte. So dass man unbedingt zu schlagen musste, obwohl der alte Wagen noch ganz gut gewesen wäre. Nur schade, dass der Neue schon wieder die ersten Kratzer beim Einparken bekommen hätte. Aber das andere Auto wäre ja auch so blöd auf dem Parkplatz herum gestanden. Und die Garagen wären halt auch enger und weniger übersichtlich wie früher …
Und warum man aus Umweltgründen eigentlich keinen Diesel fahren dürfte, de ja bekanntlich die größten Sparer wären. Und dass die e-Autos ja wirklich der größte Umweltfrevel schlecht hin wären. Man müsste ja nur nach Afrika schauen.
Die Briefmarken werden nebenher angeschaut
Das „Tauschen von Briefmarken“ ist ja fiktiv. Das Treffen könnte auch dem Schafkopfen dienen.
Die Rede kommt immer vom Thema ab. Auf die schönen Traumstraßen, die man alle schon gefahren ist und im nächsten Urlaub fahren würde. Ganz weg vom Auto geht das Gespräch nie. Und dann kommt das wesentliche. Unsere Freiheit! Freie Fahrt für freie Bürger!
Das Auto ist das Symbol der Freiheit

Welche Freiheit das Auto uns in den 60iger Jahren gebracht hätte. Was man im Auto so alles getrieben hätte (Psst!). Welche Unfälle man überlebt und welche Konflikte man mit der Polizei (erfolgreich) ausgetragen hätte.
Wie unpraktisch Navigationssysteme doch wären und wie diese die Menschen verdummen würden.
Und ich weiß jetzt auch, welche Tankstelle in Österreich am billigsten wäre (Geiz ist geil).
Gut, dass ich nur selten am Tisch sitze ;-). Denn all das interessiert mich halt überhaupt nicht!
Organisatorische Anpassung
Die alten weißen Herren überlegen dann, ob man nicht die Zeiten des Treffens verändern sollte. Weil es doch auch verkehrsarme Zeiten geben würde, wo man gut durch die Stadt kommt. Und weil es schön wäre, mal ohne Stau über den mittleren Ring zu gleiten. Und dass 70 km/h die Geschwindigkeit wäre, mit der man am besten durch kommen würde. Nicht das freiheitsraubende 60 oder gar 50 Km/h-Limit.
Des Bayerns Bier
Beim Briefmarken-Betrachten (oder dem realeren Schafkopfen) trinkt man gerne mal ein Bier. Da poppt das Thema Auto wieder hoch.
„Mit einem oder zwei Bieren über mehrere Stunden könne man ja durchaus noch gut fahren. Aber man müsse schon aufpassen, weil die Polizei ja immer intensiver kontrollieren würde. Die hätten ja sonst nichts zu tun.“
Und dann geht der der Austausch, wo die Kontrollen immer stehen würden und die Diskussion, ob diese im Fasching oder während der Starkbierzeit strenger wären.
Für mich wird es dann endgültig zu gehen.
Bye bye – ich habe genug gelitten.
Der wichtige Lappen
Meine ich doch, dass ich den Führerschein gar nicht mehr brauchen würde. Weil ich eh nicht mehr aus „normalen Gründen“ wie Regen oder Kälte Auto fahren würde. Es gibt für mich fast immer mobile Alternativen, die mir angenehmer sind als das Auto. Und nebenbei, aufgrund meines hohen Alters habe ich gar nicht mehr genug Restlebenszeit, um diese am Steuer eines Autos zu verschwenden.
Und trotzdem geht es in Männergespräch immer ums Auto (oder Frauen), und die Angst vor dem Verlust des Führerscheins ist bei den meisten wesentlich größer als die vor Corona.
Dabei meine ich, dass man einen Führerschein eh nicht bracht. Nur wenn es „um Leben und Tod geht“ Und dann könnte man sich auch ohne Führerschein vors Steuer setzen dürfen oder vielleicht sogar müssen.
Das sage ich aber nie laut. Weiß ich doch, dass mich dann Wellen des Unverständnisses überrollen.
Schlimmer geht immer!
Wechseln wir die Stammtische. Weg von den alten Männern hin zu Familie, Freunden und Verwandtschaft. In dieser Kreisen trifft man sich zum geselligen Essen. Natürlich auch für Ratsch & Tratsch. Für mich eine andere Form von „Stammtisch“.
Der Stammtisch besteht dann meistens aus Paaren oft ähnlichen Alters und vergleichbaren Lebenssituationen, die privat oder beruflich befreundet oder verwandt sind. Man trifft sich dann beim Italiener oder Griechen. Wenn es einen besonderen Anlass gibt, auch mal beim Franzosen oder im Sterne-Lokal.
Gottseidank geht es hier nicht mehr ums Auto. Sondern um das, was man sonst so macht. Also Beruf und Urlaub, Nähen und Kochen, Theater und Konzerte, Ausflüge und Erlebnisse, Krankheiten und Alltagsärger.
Das große Thema sind die Kinder.

Unausweichlich kommt das Gespräch aber immer früher oder später auf die Kinder und die Familie. Wenn es nicht die eigenen sind – weil es die ab und zu mal nicht gibt – dann gibt es immer ein paar Neffen oder Nichten, über die man reden kann. Ist der Nachwuchs schon im geschlechtsfähigen Alter, dann dreht sich der Ratsch & Tratsch schwerpunktmäßig um die Beziehungen der Kinder.
Besonders beliebt ist der aktuelle Beziehungsstatus, die vergangenen und kommenden Hochzeiten sowie Geburten und Fehlgeburten. Und natürlich auch Todesfälle und Krankheiten. Es geht um die die beruflichen Erfolge und Karrieren der eigenen Brut, um die Glanzleistungen oder das Versagen der Enkel in der Schule. Alles spannende Themen., wie auch Operationen oder Unfälle – sei es mit dem Fahrrad oder Auto – sind die Highlights.
Und das Thema Auto kommt auch noch. Unvermeidlich. Da hat sich der leichtsinnige Sohn, der noch Junggeselle ist, h einen Porsche gekauft. Warum wohl. Man kann es sich denken. Sein Bruder dagegen fährt ein E-Auto vom Tesla. Der war immer schon anders. Und es geht weiter im Thema.
Auto und Führerschein sind aber auch hier ein wichtiges Thema.
Eines der besprochenen Kinder macht gerade den Führerschein. Präziser – sie hat ihn nicht gemacht. Denn sie war eine junge Dame, also weiblich. Sie konnte es dem männlichen Prüfer natürlich nicht recht machen. Weil der will, dass man bei Tempo 50 echte 50 und nicht 45 km/h fährt. Da ist sie natürlich durchgefallen.
Und dann wird die gesamte weibliche Bekanntschaft und Verwandtschaft durchgegangen. Und siehe da, das „Durchfallen“ ist normal. Alle Angehörigen des weiblichen Geschlechts sind beim ersten Mal durch gefallen. Und die meisten Omas, Tanten, Töchter, Schwestern, Kusinen … auch beim zweiten Mal. Sie sind alle Opfer der Willkür eines männlichen Prüfers geworden. Und mussten die Prüfung wiederholen. Einige eben auch mehrmals.
Mal war die Einbahnstrasse das Problem. Oder ein Radfahrer. Oder es passiert beim Einparken. Die zu Prüfende (wie ist eigentlich die weibliche Form von Prüfling? Oder war diese Rolle für Frauen sprachlich nicht geplant?) war beim Einparken zu zögerlich. Weil ein anderer Autofahrer ein wenig Stress erzeugt hatte. Und der Fahrlehrer hat dann ein wenig zu früh eingegriffen und auf die Bremse getreten wäre, damit die Stoßstange des „Vordermannes“ nicht touchiert würde.
Und der immer männliche Prüfer(ich) hat auch nie Gnade vor Recht ergehen lassen. Unverbindlich hätte er immer seines Amtes gewaltet. Ausser damals bei der Süssen Brünette. Aber die hatte ja wirklich eine provozierende Bluse und einen ziemlich kurzen Rock angehabt. Weil er das bei Frauen aus Prinzip Nachsicht nicht angebracht wäre. Eher schon mal bei einem jungen Mann, bei dem man ja förmlich merkt, dass er Autofahren kann. Und den Führerschein ja für seinen Job brauche
Beim Einparken durchfallen?
Weil Kuppeln halt für Frauen schon an sich schwierig wäre. Wie das Schalten allgemein. Heute hätte doch (fast) jedes Auto eine elektronische Einpark-Unterstützung oder oft ein Automatik-Getriebe? Aber Automatik-Fahren gilt immer noch bei vielen als unmännlich. Das ist etwas für Frauen, aber nicht für einen Mann, der mit seinem Motor eins ist. Wie auch das elektrische Auto.
Ich denke mir dann – während ich meinen Regenmantel anziehe: Ja, Prüfungen wie auch Schulen mag ich eh nicht. Und Zertifikate für „Kulturtechniken“ sowieso nicht. Der Führerschein ist so ein rotes Tuch für mich. So freue ich mich auf das selbstfahrende Auto. Dann verlieren zumindest die Führerscheinprüfer ihre Macht.
Das Führerschein-Machen ist ein Beispiel für geschlechtsbedingte Ungerechtigkeit
Wie die Autokultur allgemein. So komme ich zum „seriösen“ Teil des Artikels. Autofahren und das drum herum im Strassenverkehr ist gelebte Frauenfeindlichkeit (Vorsicht provokativ). Man sollte Frauen gar nicht fahren lassen. Außer man hat ein paar Bier zu viel. Dann darf die Frau fahren. Obwohl man auch besoffen besser fährt.
Auf der Heimfahrt in der S-Bahn denke ich mir: Die Autofahrergesellschaft steht beispielhaft für die problematischen Widersprüche von Ethik, Moral, Geboten und Verboten, Handeln, Bussen und Strafen. Und hat eine gesellschaftliche Ignoranz erschaffen, die eigenartige Blüten treibt.
Unsere Kultur der individuellen motorisierten Mobilität zeigt, wie menschliche Trägheit, Triebe und eine unfassbare Unvernunft zusammen ein System geschaffen haben, das katastrophale Folgen hat. Das gilt natürlich auch für die schnellen und oft rücksichtslosen Fahrern von Motorrädern, e-Bikes und Rennrädern. Und leider auch für viele „normale“ Fahrradfahrer.
Man muss nur an den Stammtischen lauschen.
RMD