Noch nicht einmal 20 Jahre sind vergangen, seit der real existierende Sozialismus sich in seiner Kernschmelze aufgelöst hat. Dass sich aber schon so bald auch der fantastische Kapitalismus um Haaresbreite an seinem Bankrott vorbeiwursteln würde, haben sich die Konstrukteure der Wende so wenig träumen lassen, wie seinerzeit die Funktionäre der Sowjektnomenklatura ihren eigenen GAU. Nicht weniger als die Planwirtschaft ist der Kapitalismus inzwischen über die Grenzen seines Wachstum hinausgewuchert.
Es gibt Stimmen, die sich wünschen, man hätte das Auffangnetz für ihn nie gestrickt. Immer mehr Artisten und Finanzjongleure, herabgefallen aus spekulativen Höhen, soll es jetzt tragen. Warum lassen wir sie nicht bis zum harten Boden der Realität durchrasseln? – Weil wir Angst haben, dass sie uns mitreißen könnten, und weil wir am Wohlstand kleben. So sind wir alle offen für Bestechungen durch den Staat.
Wer sich das Ende des Kapitalismus herbeiwünscht, muss sich klar machen, dass mindestens zwei Kapitalismen existieren. Er sollte sich entscheiden, welchem er zur Macht verhilft, während er für die Beseitigung des anderen stimmt. Der eine Kapitalismus ist geprägt von uferloser Akkumulation von Kapital in den Händen Weniger, die sich die Freiheit herausnehmen, damit tun und lassen zu können, was ihrer Macht und der Vertreibung ihrer Langeweile dienlich ist. Vielleicht ist er von geringerem Übel als der andere.
Der andere Kapitalismus besteht in der bis ins kleinste Detail der Arbeit und des Privatlebens durchorganisierten Verwaltung durch Rechts- und Ordnungsstrukturen, die aus bürokratischen Ämtern und systemischen Gerüsten weltweiter Warenproduktion und Dienstleistungsorganisation jedes Risiko kalkulieren und minimieren müssen. Sonderwege, Innovationen und Risikobereitschaft werden ihm gefährlich. Es ist jener Kapitalismus der innerweltlichen Askese, der Rationalisierung von Arbeit, von dem Max Weber gesehen hatte, dass er am Ende zu einer vollständig durchrationalisierten Welt entarten würde. Einen „asketischen Rationalismus“ sah er im Entstehen, der „nun auch für den Inhalt der sozialpolitischen Ethik, also für die Art der Organisation und der Funktionen der sozialen Gemeinschaften vom Konventikel bis zum Staat“ (Weber) verantwortlich ist.
Dieser Kapitalismus resultiert aus der Angst vor der Bedeutungslosigkeit des Individuums. Indem es mit methodischem Plan alles bis ins Detail der Herrschaft seiner Organisation unterwirft, keinen Arbeiter unbeobachtet sich selbst und nichts dem Zufall überlässt, versichert es sich seiner Zugehörigkeit zu einem unzerstörbaren Ganzen. In diesem Kapitalismus gewinnt unverhofft Macht der eigentümlich blasse und blutleere Sytemagent, den nichts so sehr interessiert wie die Verwandlung lebendiger Zusammenhänge in tote, bürokratische Systeme.
Max Weber hatte keine Freude an dieser Vision. Mit Worten aus Nietzsches Zarathustra versuchte er sie zu fassen: „Dann allerdings könnte für die ‘letzten Menschen’ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ‘Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.’“
Ohne sich an Max Weber orientieren zu müssen, hatte Herbert Marcuse vor einem halben Jahrhundert dann dazu aufgerufen, sich der vollkommenen bürokratischen Verwaltung zu verweigern. Er hatte später gehofft, dass eine Jugend sich aus der gesellschaftlichen Repression der „systematischen Steuerung und Kontrolle“ würde befreien können. Der Kapitalismus der „Triebunterdrückung“, gegen den sich seine „Revolte“ richtete, war jenes Geflecht aus „Manipulation im Interesse bestimmter Unternehmen, politischer Richtungen und Interessen“, denen „das allgemeine und objektive Ziel übergeordnet (ist), den Einzelnen mit der Lebensform auszusöhnen, die ihm von der Gesellschaft aufgezwungen wird.“
Indem wir heute unsere Blicke auf den Kapitalismus der sozialen Ungerechtigkeit lenken lassen und dort Sündenböcke opfern, wird das Individuum – wie Marcuses Diagnose entlarvte – „gleichzeitig nachgiebiger und fügsamer, denn es unterwirft sich einer Gesellschaft, die dank ihrem Überfluss und ihrer Macht seine tiefsten Triebansprüche verwaltet und befriedigt.“
Marcuses Empfehlung, gegen die repressive Macht der puritanischen Pflichtethik eine „ästhetische Moral“ zu setzen, die nicht aus Triebunterdrückung, sondern mit dem natürlichen Spieltrieb des Menschen seine Freude an der produktiven, innovativen – nicht ausbeuterischen – Arbeit steigere, würde uns sicher leichter aus dem Sumpf der faulen Kredite herausführen, als die moralisierende Schelte derjenigen, die durch Nachbesserung ihrer Rahmenrichtlinien und Standards einen zuvor begangenen Fehler durch einen weiteren korrigieren wollen.
KJG