Zertifizierung – Wahn oder Sinn? I

In immer mehr technischen Disziplinen und mittlerweile auch in Bereichen, die soziale Kompetenz und verantwortliches Arbeiten erfordern, werden Menschen gezwungen, einen erheblichen Aufwand für Zertifizierungen zu erbringen. Und das nicht in Form von einer fundierten Supervision durch einen erfahrenen Begleiter sondern durch systemische Formalismen aufbauend auf einer Mischung von „multiple choice test“ und „credit points“. Ankreuzen und „Payback“ spielen für die Karriere.

Angefangen mit diesem genialen Geschäft haben Technologiekonzerne, die mit ihren überkomplizierten Produkten Herrschaftswissen kreierten und daran doppelt verdienen wollten. Verbände und Vereine sind diesem selbstherrlichen Vorbild gefolgt.

Ursprünglich als Berufsverband oder als Plattform für gemeinsame Interessen und zum Austausch von Wissen und Erfahrung gegründet, wandeln sie sich auf ihrem Weg zur Macht in Institutionen, die „Wirklichkeit“ festlegen. Aus Ansätzen von „best practice“ werden Standards entwickelt, die Komplexität vereinfachen sollen. Da das nicht funktioniert, werden dann diese Standards theoretisch und spekulativ weiterentwickelt, bis sie sich selbst von der Realität abheben.

Das ganze verselbstständigt sich dann immer mehr. Komplexe Werkzeuge werden entwickelt, die um oft absurde Funktionen erweitert werden. Die mag dann zwar keiner mehr, aber immerhin bilden sie die Basis für weitere Zertifikate.

Wenn die Institution eine gewisse Macht erreicht hat, dann sind ihre Zertifikate zwingend und müssen teuer erworben werden. Weil alles so schnell geht, ist die Gültigkeit zeitlich begrenzt. Die Verlängerung geht mit „credit points“. Oftmals unterstützt der Verband bei der Vergabe eigene Interessen. Man muss die richtigen Veranstaltungen besuchen, eine meistens relevante Gebühr zahlen und erhält eine neue Urkunde.

Viele machen bei diesem Spiel gerne mit. Ein Zertifikat ist die einfachste Art, Wissen und Können glaubhaft zu machen, das man gar nicht hat.

Die Zertifizierung hilft aber zuerst mal nur denen, die die Zertifikate vergeben. Diese Unternehmen und Institutionen werden reich und mächtig. Sie legen fest, was richtig ist. Das auch für sehr abstrakte Tätigkeiten, die viel Erfahrung, Mut und Verantwortung erfordern. Auch die werden vereinfacht, standardisiert und zertifiziert. Das geht natürlich meistens schief.

So hat dann der „Zertifizierte“ in der Regel nur einen Nutzen: er bekommt ein Zertifikat. Dies beruhigt den potentiellen Kunden. Der Dienstleister hat ja ein Zertifikat, dann wird er schon über die nachgefragten Qualitäten verfügen. So kann man gut schlafen – und ist dann völlig überrascht, dass so viele Projekte schief gehen.

Letzten Endes sagt das Zertifikat aber nur aus, dass der Inhaber den einen oder anderen Kurs besucht und genug Punkte gesammelt hat. Und dass er in der Lage ist, einen Multiple-Choice-Test und manchmal auch ein wenig mehr zu bestehen.

Früher war das anders.

Maschinen (wie auch Autos) wurden zertifiziert. Am Anfang durfte das nur der TÜV.

Menschen wurden nicht zertifiziert. Für sie gab es Bildung und Ausbildung. In Schulen und Universitäten, in dualen Bildungswegen.

Die Menschen mussten Lernen und Üben. Ihre Erfahrung haben sie sich erworben. Sie gingen in eine Lehre und wurden zum Gesellen. Haben beim Meister gelernt und wurden dann später selbst Meister. Ihr Können mussten sie in einer Abschlussarbeit oder mit einem Werkstück unter Beweis stellen.

Dann waren sie in der Verantwortung, ihr handwerkliches Können durch Erfahrung, Weiterbildung und Offenheit  aktuell zu halten. Werkstolz und die Erhalten der Wettbewerbsfähigkeit waren Motivation genug, mit dem Lernen nicht aufzuhören.

Wie sieht es heute aus?

Schule und Hochschule versagen immer mehr. Unsere traditionellen und nicht schlechten Ausbildungswege sind beschädigt. Der Doktortitel ist nur noch ein Spaßtitel, der spätestens am „immigration desk“ in Australien vom „immigration officer“ nachsichtig belächelt wird. Der schwarze Gürtel des Projekt Managers ist zwei mal den Doktor wert.

Die Zertifizierung ist eine Form der Privatisierung von Bildung und Ausbildung – mit den entsprechenden Folgen. Standards sorgen für Uniformität, gestützt von Kommerzialisierung. Bildung wird „convenient“, zum „fast food“.

Als Folge beschränken sich die Menschen aufs Funktionieren in einem geschlossenen System. „Folgen“ wird belohnt, generative und kreative Anteile werden verdrängt.

Es wird suggeriert, man könne vorhandene Komplexität simplifizieren. Indem man Wissen und Erfahrung mit einfachen“Kochrezepten“ ausgleichen und ein durch wenig „best practice“ ersetzen könne. Probleme werden nicht mehr gefunden und untersucht – sondern nur noch gelöst. Nur wie das gehen soll, ist mir schleierhaft.

Man muss nur noch seinen Schein machen. So wie man Autofahrer, Jäger oder Angler wird. Und dann ist man einer. Nur – das klappt doch schon bei einfachen Dingen wie dem Autofahren nicht.

Wie soll das dann bei komplexen Führungstätigkeiten funktionieren?

Also eher Wahn als Sinn?

RMD

4 Antworten

  1. Yes, this goes with the way things are designed more and more to make it difficult to repair them. Even simple electric cables are made so that the plug cannot be changed. I have a window shade with a problem. Instructions for installing it are easily found in internet, but nothing about how to dismantle it, (which is much more difficult).
    I have a multi-socket cable extension. A small piece of mettle bounces around in it, and once caused a short circuit, but one cannot get it out.
    I have just been offered a Master of Maths degree for work I did in 1963-64, so there must be profit in these things.

  2. Hallo,

    schönes Thema, gerade im Sommerloch. Ich bin immer wieder erstaunt, wie solche Themen emotional besetzt werden.

    Ich selber gehöre zu denen, die die Wahrheit irgendwie zwischen Wahn und Sinn sehen.

    Sinn ist ganz einfach: Da ich als Unternehmensberater tätig bin und oftmals eine Zertifizierung von Kunden verlangt wird, macht das objektiv Sinn. Würde ich ohne meine Schulterklappen erst gar nicht weiter kommen.

    Wahn, da die Zertifikate mehr suggerieren, als sie sind: Ich beweise zwar, dass ich die Grundlagen beherrsche (und bei den großen wie PMI und GPM, dass ich auch irgendwie damit gearbeitet habe), aber ob ich das Umsetzen kann oder gar ein „Guter“ bin, steht auf einen anderen Blatt.

    Die Wahrheit wird irgendwie grau sein.
    lG
    Stephan

  3. @Stephan, ich stimme Dir voll zu.
    Nur ein Hinweis: Das Thema ist ein Teil unseres Werte- und sonstigen Wandels. Dieser Wandel betrifft unsere Gesellschaft und die Art und Weise, wie sie funktioniert. Wenn ich dann die Regeln des besiegten (?) „Kommunismus“ und die des siegenden (?) Kapitalismus so erlebe, dann wird mir ab und zu ein wenig bange. Und wie wir mit Bildung und Ausbildung umgehen, gehört da wesentlich dazu. Deshalb nehme ich mir heraus, ein wenig emotional zu sein.
    Aber auch das nur in Maßen 🙂 .
    Danke fürs Lesen und Kommentieren …

  4. Zitat ’stephan‘ ohne Nachname:
    | Da ich als Unternehmensberater tätig bin und oftmals
    | eine Zertifizierung von Kunden verlangt wird, macht das
    | objektiv Sinn

    Ganz objektiv ist schon die Formulierung unsinnig, man oder irgendetwas kann keinen „Sinn machen“. Mein alter Deutschlehrer bemerkte einmal, „seine Sprache offenbart den Menschen“.

    Als Berater von Unternehmen prüfe ich gern erst einmal, ob überhaupt eine ‚Zertifizierung‘ sinnvoll ist respektive wie man eine solche umgehen oder vortäuschen kann.

    Zwei konkrete Beispiele für alltäglichen Zertifizierungsschwachsinn:

    1.
    Ein Unternehmen in der Bundesrepublik stellt Schornsteinsysteme aus Edelstahl her, die von allen möglichen Parasiten und Nichtsnutzen „zertifiziert“ werden müssen. Das kostet ein Vermögen.
    Der Wettbewerb beispielsweise in Rußland scheißt auf diese Zertifizierungen und stempelt die ‚Bapperl‘ trotzdem. Oder schmiert die „Zertifizierer“. Das kostet fast nix, jeder weiß es, aber beweisen kann keiner.

    Schön, daß unsere Industrie alles so fein und mustergültig machen darf – nur konkurrenzfähig ist sie nicht mehr.

    2.
    Ein mittelständisches Maschinenbauunternehmen wurde genötigt, Qualitätsmanagement einzuführen, ausgerechnet auch noch vom TÜV ‚zertifiziert‘.
    In direkter Folge hatte das Unternehmen zum erstenmal in seiner Geschichte mit massiven Qualitätsmängeln zu kämpfen.
    War auch klar, warum: *Vor* der QM fühlten sich die Fertigungsleiter persönlich für ihre Produkte verantwortlich und prüften mit Erfahrung, Sachverstand und Engagement.
    Nach der QM mußten ‚Checklisten‘ mit 2.345 unnützen Positionen abgehakt werden, wobei natürlich die entscheidenden Punkte fehlten – woher hätte der kleine Pipijunge, der zum ‚QS-Beauftragten‘ weggelobt wurde, die auch kennen sollen ?

    Firmen, die international anerkannte Spitzenqualität liefern, zum Beispiel Rohloff in Kassel, brauchen partout kein Qualitätsmanagement.

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