Evolutionäres Lernen und neue Bildung am Beispiel des OVERTON WINDOW

Seit ein paar Jahrzehnten erlebe ich ganz persönlich etwas Sensationelles. Ich lerne „on the job„, „im Spiel“ oder noch einfacher – „im Leben„. Ich erlebe eine völlig neue und sehr effektive Art zu lernen, die mich begeistert. Ich nenne das „evolutionäres Lernen“.

Evolutionäres Lernen

Das geht so: Ich habe ein Projekt, in dem ich Neuland betrete. Ich bin im Dialog mit einem anderen Menschen, gern zu einem Thema, dass uns beide bewegt. Ich gebe mein Wissen weiter und bekomme immenses Feedback. Oder ich finde beim Lesen von Blogs, Anhören von Podcasts oder in persönlichen Gesprächen Impulse und Anregungen. Denen ich folge.

Dabei entdecke ich viel Neues, das mich interessiert. Da forsche ich nach – und das Wissen fliegt mir nur so zu. So macht mir Lernen jetzt wahnsinnig viel Spaß. Und weil es so viel Freude macht, lerne ich jeden Tag viel Neues.

Früher war das leider anders. SCHULE und STUDIUM habe ich als sehr unangenehm erlebt.

Lernen im Gymnasium:

Das bedeutete Präsenzpflicht. Früh aufstehen und im dunkeln, kalten und nassen Wetter einen langen Fußweg machen. Dann ging es in einem Gebäude, das als architektonische Vorbild eine Kaserne oder Altersheim gehabt hat. Es herrschte Frontalunterricht, man mußte still sitzen und zuhören. Die Klassenzimmer waren stickig und dumpf, der Mief von nass gewordenen Kleidern, Schweiß und Käsefüssen.

Es gab einen strengen Stundenplan, der mir meine Zeit stahl. Im besten Fall hatte der Raum Fenster, aus denen man rausschauen konnte. Da habe ich Bäume gesehen, in denen Vögel zwitscherten. Ein schönes Geräusch, das ein bisschen Glück im Stunden langen Eingesperrt-Sein in der Lehranstalt vermittelte.

Die Lehrer dozierten unmotiviert und einem willkürlichen Lehrplan folgend. Ich musste mir Zeug anhören, das mich überwiegend nicht interessierte. Wenn nichts interessantes kommt, dann schaltete ich ab. In der Tat  interessierten mich nur weniger Fächer wie Mathematik, Biologie, Französisch, Sozialwesen und Geschichte und da auch nicht alles. Sogar in meinen Lieblingsfächer empfand ich vieles als unwichtig und unsinnig, wie z.B. in Geschichte das Pauken von Jahreszahlen.

Mir ging es immer um das Verstehen, ich wollte die Zusammenhänge kapieren, begreifen was Ursache und Wirkung war. Ich wollte Antworten bekommen auf das Wer, Was, Wie und auf das Wieso und Warum. Und diese diskutieren dürfen

Das war aber die Ausnahme. Meistens wurde einem die Wahrheit vor gesetzt. Die musste man auswendig lernen, damit man die „richtigen“ Antworten geben konnte. Egal, wie fragwürdig diese waren. Weil man das schon immer so gemacht hatten. Und weil wenn man das nicht so machen würde, die Dämme brechen würden. Und wenn ich die Frage stellte, welche Dämme das denn wären, dann war ich der böse Störenfried.

So zog ich mich zurück und langweilte mich in meisten Fächern. In manchen Fächern wie Deutsch konnte ich mich zumindest über die absurden Interpretationen belustigen, meistens war das ganze aber nur ärgerlich.

Die Prüfungen freilich wollte ich bestehen. Weil meine Eltern mir bei gebracht hatten, dass man ohne Abitur absolut nichts werden könnte. Das war natürlich auch Blödsinn, aber ich glaubte diesen Blödsinn. Also entwickelte ich eine effiziente Wissens-Bulimie, will heißen, das ich das Wissen daheim in extremen Lernprozessen verschlang und nach den Prüfungen konsequent auskotzte. Übung macht den Meister, so wurde ich ein Meister im schnellen Aneignen und noch schnelleren Vergessen von „Wissen“.

Lernen im Studium:

Hauptgebäude von Gottfried von Neureuther 1909 (Quelle Wikipedia)

Da war ähnlich. Ich kapierte schnell, dass meine Anwesenheit (Präsenz) zum Besuch der Vorlesungen im geschichtsträchtigen Gebäude der TUM an der Arcisstrasse ziemlich uneffektiv war.

Meine Zeit bei Siemens war besser investiert. Nicht nur, weil SW-Entwicklung schon in den 1970iger Jahren auch für Studenten sehr gut bezahlt war, sondern weil ich da beliebig viele Rechner mit verschiedenen Betriebssystemen „unter mir“ hatte, die moderner und vor allem verfügbarer waren als der TUM-Rechner. Dass die Siemens-Kantine in der Hofmannstr. deutlich besser und billiger als die Mensa der TUM in der Arcisstr. war, kam noch dazu.

Fürs Studium habe ich die Mathematik (ich hatte im Hauptfach Mathematik und als Nebenfach-Informatik) aus den Büchern gelernt. Als gutes Beispiel erwähne ich das mathematische Basis-Fach Lineare Algebra. Da gab es sehr gute Lehr- und Übungs-Bücher vom Professor Heinold. Aus denen konnte man in wenigen Wochen, vielleicht sogar Tagen, den Stoff von zwei Semestern lernen.

So war ich bald nur noch als Tutor (auch der Job war gut bezahlt) in den ehrwürdigen Gebäuden des Altbaus oder im abschreckenden Neubau der TUM. Der Neubau war der erst in meiner Studienzeit gebaute Südbau. Damals noch außen hui, innen aber pfui. Es war ein absolut menschenunfreundliches Gebäude, in dem z.B. die Vorlesungsräume keine Fenster hatten. Absolut nachvollziehbar wurde das Gebäude vor mehreren Jahren platt gemacht.

So wurde ich schon 1972 zum „remote-Student“, ganz ohne Corona. Es gab wirklich keinen Grund, in die TUM zu gehen. Eigentlich musste man nur zu den Prüfungen und dem Abholen der Zeugnisse rein fahren.

Der Traum von einer neuen Bildung.

So entstand bei mir eine ordentliche Skepsis gegen die „normale“ Schule und Uni wie das tradierte Lernen. Wie ich dann Vater wurde, wurde es mir noch klarer. Ich habe mit den Kindern mit gelitten und ihren Trotz gegen die Schule verstanden.

Unser grausames Bildungssystem ist stehen geblieben. Man fühlt sich wie beim Militär, statische Lehrpläne schreiben vor, was gelehrt werden muss. Der Lehrer ist ein Systemagent des Kultusministerien, der gezwungen wird,  Emphatie, Kreativität und Eigenverantwortung abzulegen, wenn er nicht untergehen will.

So entstand bei mir der Traum einer neuen Schule, die agilen Prinzipien folgt und in der sich Schüler unterstützt von Pädagogen ihr Lernen selbst organisieren können. Ich habe erlebt, dass das möglich ist und auch davon in IF-Blog berichtet (siehe Christophine).

So meine ich es durchaus ernst, wenn ich sage: Man müsste die alte Schule abschaffen und durch eine neue ersetzen. Und habe bemerkt, dass es schon viele gute Ansätze gibt. In der alten preußischen Welt wäre zum Beispiel Waldorf- oder Montessori-Schule unvorstellbar gewesen. Das sind aber gute Ansätze hin zu einer von Schülern, Lehrern und vielleicht auch ein wenig Eltern selbstorganisierte, agile und freie Schule. In der Kinder die wichtigen Basisfähigkeiten des Fragens und Verstehens erlernen und dabei sich selbst treu bleiben und autonome Menschen werden.

Wie geht Veränderung

Veränderung von sozialen Strukturen ist für mich eines der größten Themen überhaupt. Wie kann es sein, dass das was früher als undenkbar galt heute das normalste der Welt ist? Das wir heute Dinge machen, die vor Jahrzehnten ausgeschlossen waren und wichtige Menschen wie Politiker dazu sagten „Wenn man das erlaubt, dann brechen Dämme!“
(das ist übrigens ein ähnlich dummer Satz wie „das einzige und ausschließliche Kriterium für Impfungen müssen die Impfkriterien der Stikom sein“).
So habe ich vor kurzem wieder etwas sehr Wichtiges und Neues gelernt. Ganz evolutionär, ein lieber Freund hat mich darauf hingewiesen:

Das Overton Window

Quelle Wikipedia (siehe Overton Window)

Das Bild macht auf wunderbare Art klar, wie es geht und läuft. Gerade, wenn es um Innovation und Veränderung geht. Ein Hinweis sei mir gestattet: Das englische Wort „sensible“ steht hier für denkbar, vernünftig, sinnvoll …

Ich glaube, ich muss dazu nicht mehr viel schreiben. Vieles, was völlig undenkbar war, ist heute zur grundsätzlichen Regel geworden. Und die Hoffnung bleibt, dass wir auch irgendwann eine bessere Schule und vielleicht sogar Demokratie bekommen werden.

RMD

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