Hartz IV, ein Selbstversuch.

5 Euro bezahlt also Jan Fleischhauer
vom SPIEGEL für ein Glas Wein
(das hat ihm Anne Will am Sonntag
herausgelockt – eher herausgepresst).

5 Euro können Empfänger von Hartz IV
mehr ausgeben – für einen ganzen Monat.

Was sagt uns das?

Nichts.

Auf ähnlich hilflosem Niveau waren die
Diskussionen von gut verdienenden
Öffentlichkeitsarbeitern über Empfänger
von Hartz IV schon zur Einführung des
neuen „Existenzminimums“.

Ich wollte damals wissen, wie das ist, von
345 Euro leben zu müssen, ich wollte es
nicht von den Theoretikern der Empathie
hören oder von Leuten, die ein knallhartes
politisches Interesse haben, ich wollte es
selbst erleben.

Also entschloss ich mich, Hartz IV zu leben.

Ausgesucht hatte ich mir den Januar 2007.
Einen Monat mit 31 Tagen. 345 Euro (der
Monatssatz damals) geteilt durch 31 Tage
machte 11 Euro 13. Den Minimalsatz.

Dieser Tagessatz war auch die Basis meiner
Buchhaltung. Links die 11 Euro 13 kumuliert
über 31 Tage als meine Verfügungsmasse,
rechts meine tatsächlichen Ausgaben Tag
für Tag – auch kumuliert.

Die Bedingungen meines Experiments:

Keiner durfte mich einseitig einladen.
Wenn es zu einer gegenseitigen Einladung
kam, dann nur bei vergleichbarem Wert
(Trinken, Essen, Unterhaltungskosten).

Das habe ich dann ausgegeben:

Lebensmittel 143.44 Euro
Kneipe/Kino 88.88 Euro
Zeitungen/Zeitschriften 14.60 Euro
Bücher (Fach) 20.85 Euro
CD 13.59 Euro
Telefon (privat in Firma) 2.46 Euro
Monatskarte 69.20 Euro

Zusammen 353.02 Euro

Ich hatte also überzogen: 8.02 Euro

Meine Ausgaben weichen sowohl von der
Höhe und als auch von den Kategorien des
Regelsatzes ab.

Meine Kosten für Lebensmittel sind etwas höher
(da war auch Alkohohl drin, ich rauche nicht),
als im derzeitigen Regelsatz ausgewiesen.

Meine Ausgaben für Beherbergungs- und
Gastättendienstleistungen sind um über das
10-fache höher.

Die für Verkehr um das 3-fache (meiner
Arbeit geschuldet, die ich unter echten
Hartz IV-Bedingungen wohl nicht hätte).

Bei mir gibt es weder Ausgaben für Schuhe,
Kleidung, noch für Wohnungsinstandhaltung
oder Gesundheitspflege (da war ich bereits
eingedeckt).

Wie ging’s mir?

Ich habe mich gesünder ernährt, weil ich mir
Fastfood und Snacks nicht mehr leisten konnte.

Die Ausgaben für Fachbücher könnte
ich im echten Leben nicht durchhalten,
weil wesentlich teurere Bücher dazukämen.

Meine Kino – und Kneipenbesuche waren
unter dem Schnitt, nicht sehr spontan,
aber ohne größere Entzugserscheinungen.

Die Besuche in den Wohnungen auf der
Basis ähnlicher finanzieller Ausgaben
waren positives Neuland. Ich habe zum
ersten Mal gekocht (die ausbleibenden
Klagen führe ich auf die Ausnahmesituation
des Experiments zurück), die Treffen
waren durch die notwendige Planung
intensiver als beim schnellen Ausgeben
relativ unlimitierter Summen in Gaststätten
(allerdings möchte ich in Zukunft nicht jeden
Matjeshering per Güteklasse aufrechnen).

Summasummarum:

Mehr Planung, weniger Alkohohl (teuer!).

Aber nicht weniger Freunde, nicht sehr
viel weniger Kultur und Lebensfreude.

Ich weiß, was jetzt kommt.

Klar, das war nur ein Monat, dieses
Experiment über ein Jahr (oder einen
längeren Zeitraum) würde ganz anders
aussehen.

Vermutlich, darüber will ich nicht weiter
spekulieren, sonst wäre ich wieder bei
denen, die viel wissen, aber keine Ahnung
haben. Auch einige andere lebensfremde
Bedingungen meines Experiments sind
selbstverständlich diskussionswürdig.
Aber insgesamt glaube ich, jetzt besser
verstehen zu können, wie es ist, finanziell
auf Hartz IV angewiesen zu sein. Wie
der einzelne Betroffene sich allerdings fühlt,
das wird mir immer verschlossen bleiben.

Da kann ich nur etwas zu mir sagen.

SIX

4 Antworten

  1. Lieber Detlev,
    das ist kurz gesagt Klasse. Du hast nicht bei der „Tafel“ eingekauft, keine Klamotten beim Roten Kreuz abgeholt, hast selten selbst gekocht, für die Flasche Wein wahrscheinlich weniger ausgegeben als Herr Fleischauer für ein Glas. Und hast einen Monat durchgehalten. Nach drei Monaten hättest Du wieder einen Job angenommen, da bin ich mir sicher. Chapeau für diesen Selbstversuch.
    Eilika

  2. Detlevs „Selbstversuch“ ist stark, weil er nicht der Versuchung unterliegt Schlussfolgerungen zu ziehen und Urteile zu fällen.

    Allein das ist mir 5 Sterne wert.

  3. Studenten müssen sich nicht über das Materielle ausdrücken, sie haben andere Mittel zur Anerkennung. Das macht es leichter, mit weniger Geld zu leben. Wenn aber Menschen ihre Aufgabe verlieren und gleich noch den finanziellen Spielraum dazu, dann ist wahrscheinlich das Stigma des Verlierers das Schlimmste. Deshalb wird der Hader über Hartz IV immer wieder dieselben Endlosschleifen drehen, solange wir uns noch fast ausschließlich über die Erwerbsarbeit definieren und den Status, den wir darin erreichen. Dabei gäbe es jede Menge „statusträchtiger“ (im Sinne des Gemeinnützigen) Arbeit in unserer Gesellschaft ausserhalb der Erwerbsarbeit. Aber soweit sind wir noch nicht, dass wir die sehen und annehmen und anerkennen.

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